<article class="rz"><h2>1. Einleitung</h2>
<p>Wenn es eine juristische Disziplin gibt, die sich den Begriff der Gerechtigkeit zur Grundlage gemacht hat, dann ist es das Steuerrecht. Keine andere Fachrichtung setzt sich so intensiv mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, der Lastengerechtigkeit und der Bedarfsgerechtigkeit auseinander, wie die Steuerwissenschaften. Steuergerechtigkeit ist eine Thematik, die uns alle betrifft. Wir alle sind sowohl Zahlende und/oder Empfangende – womit die Erwartung einher geht, im bestehenden System Gerechtigkeit zu erfahren.<sup><a title="" href="#_ftn1" name="_ftnref1">01</a></sup></p>
<p>Der Begriff der Gerechtigkeit allein vermag in seiner Abstraktheit dem Recht zunächst noch keinen Nutzen zu erweisen. Er muss mit Inhalt gefüllt werden, um der Juristerei dienlich zu sein und ihr in seiner praktischen Anwendung einen Mehrwert zu bieten.<sup><a title="" href="#_ftn2" name="_ftnref2">02</a></sup> Dieser Aufgabe nimmt sich die vorliegende Arbeit an. In einem Teilbereich des Steuerrechts, nämlich dem Erbschaftssteuerrecht, soll dem Begriff der Gerechtigkeit Gehalt gegeben werden.</p>
<p>Obwohl die Erbschaftssteuer aktuell nur rund 1 % der Gesamtsteuereinnahmen der Schweiz ausmacht,<sup><a title="" href="#_ftn3" name="_ftnref3">03</a></sup> ist ihre Bedeutung nicht zu unterschätzen. Der bescheidene Ertrag lässt sich in erster Linie auf die gegenwärtige Ausgestaltung der Erbschaftssteuer zurückführen, welche – wie der Name sagt – zu gestalten ist. Aus der Menge an generiertem Steuersubstrat lässt sich nicht auf die Bedeutung einer Steuer schliessen. Die Erbschaftssteuer hat das Potential, eine wichtigere Stellung im Finanzhaushalt der Schweiz einzunehmen und ist es somit wert, genauer untersucht zu werden.</p>
<p>Im Rahmen dieser Arbeit soll der zentralen Frage nachgegangen werden, ob das schweizerische Erbschaftssteuerrecht nach der philosophischen Theorie von John Rawls als gerecht zu qualifizieren ist. Ergänzend wird Rawls Position selbst einer kritischen Betrachtung unterzogen und danach gefragt, ob eine nach seiner Gerechtigkeitsvorstellung ausgestaltete Erbschaftssteuerordnung für die Schweiz erstrebenswert wäre.</p>
<p>Zu erwarten ist, dass sich Rawls mit seinem Verständnis von Gerechtigkeit als Fairness für die Erhebung einer Erbschaftssteuer ausspricht. Was die momentane Ausgestaltung betrifft, wird eine nach seiner Gerechtigkeitsvorstellung ausgestaltete Erbschaftsordnung mutmasslich im Bereich der Erhebungshoheit und der Steuerprivilegierung bestimmter Personenkreise von dem in den Schweizer Kantonen herrschenden System abweichen. Auch wenn eine direkte Übernahme seiner philosophischen Theorie in jenes System wahrscheinlich nicht zielführend sein kann, wird die Beschäftigung mit ihr dem Erbschaftssteuerrecht neue Perspektiven eröffnen und die Gerechtigkeitsdebatte bereichern.</p>
<p>Zur Beantwortung der in dieser Arbeit aufgeworfenen Fragen wird eine Analyse mittels Literaturrecherche durchgeführt. Unter Berücksichtigung von juristischer Literatur und Rechtsprechung auf der einen Seite und philosophischer Primär- und Sekundärliteratur auf der anderen Seite, wird der Interdisziplinarität Rechnung getragen. Die abschliessende Konklusion und Verknüpfung der beiden Teile erfolgen nach eigenem Ermessen in Anwendung der sich aus der Recherche ergebenden Erkenntnissen.</p>
<p>Gegliedert wird die Arbeit in zwei Hauptteile. Im ersten Teil soll mit einem theoretischen Überblick über die Erbschaftssteuer eine Basis für die im zweiten Teil geführte Gerechtigkeitsdiskussion geschaffen werden. Dabei wird zunächst auf die rechtlichen Grundlagen der Erbschaftssteuer eingegangen. Daran anschliessend werden die verfassungsrechtlichen Schranken betrachtet, in deren Rahmen sich die Ausgestaltung der Steuer zu bewegen hat. Schliesslich wird die Frage behandelt, was denn die Erhebung einer Erbschaftssteuer überhaupt legitimiert. Dazu werden verschiedene Rechtfertigungsversuche der Erbschaftssteuer untersucht.</p>
<p>Im zweiten Teil wird Rawls Theorie der Gerechtigkeit dargestellt und ihre Kernaussagen präsentiert, bevor sie anschliessend auf das schweizerische Erbschaftssteuerrecht angewendet werden. Es wird untersucht, wie Rawls zur Erhebung und Ausgestaltung der schweizerischen Erbschaftssteuer steht und ob ein nach seiner Gerechtigkeitsvorstellung ausgestaltetes Steuersystem – sollte es vom Status quo abweichen – erstrebenswert wäre.</p>
<h2>2. Grundlagen der Erbschaftssteuer</h2>
<p>Die nachfolgenden Ausführungen sollen einen systematischen Überblick über die Ausgestaltung der schweizerischen Erbschaftssteuer geben. Dabei werden insbesondere die Punkte hervorgehoben, die für die anschliessende Gerechtigkeitsdiskussion relevant sind. Um was für eine Steuer handelt es sich bei der Erbschaftssteuer? Wer erhebt sie? Wen besteuert man und was wird besteuert? Diese Grundfragen sollen die Basis für die nachfolgende Betrachtung bilden.</p>
<h3>2.1 Allgemeines</h3>
<h4>2.1.1 Arten der Erbschaftssteuer</h4>
<p>Dem Gesetzgeber stehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten offen, mittels Besteuerung in die Erbmasse einzugreifen. Nach dem sogenannten Nachlasssteuermodell wird der Erblasser einer Art letztmaligen Vermögensbesteuerung unterzogen. Erfasst wird von der Nachlasssteuer das ungeteilte Vermögen zum Zeitpunkt des Erbanfalls als Ganzes. Allfällige Verwandtschaftsverhältnisse bleiben unberücksichtigt. Die Bemessung der Erbschaftssteuer bezieht sich allein auf die unverteilte Erbmasse.<sup><a title="" href="#_ftn4" name="_ftnref4">04</a></sup></p>
<p>Steuerrechtstheoretisch davon zu unterscheiden ist die zweite Ausgestaltungsmöglichkeit der Erbschaftssteuer: Die Erbanfallsteuer. Im Gegensatz zur Nachlasssteuer wird nicht die Vermögensgesamtheit des Erblassers erfasst. Stattdessen sind die steuerbegründenden Tatbestände jeweils die einzelnen Vermögensübergänge auf den oder die Erben. Die Erbanfallsteuer beschlägt die individuelle Bereicherung und lässt eine Differenzierung betreffend dem (verwandtschaftlichen) Näheverhältnis zum Erblasser zu.<sup><a title="" href="#_ftn5" name="_ftnref5">05</a></sup> In der Schweiz nimmt sie aus diesem Grund die vorherrschende Stellung ein. In fast allen Kantonen, welche eine Erbschaftssteuer erheben, ist sie als Erbanfallsteuer konzipiert. Einzig der Kanton Solothurn erhebt zusätzlich zur Erbanfallsteuer eine Nachlasstaxe.<sup><a title="" href="#_ftn6" name="_ftnref6">06</a></sup> Ohne anderweitigen Hinweis ist die Erbschaftssteuer im weiteren Verlauf dieser Arbeit stets in ihre Ausgestaltung als Erbanfallsteuer gemeint.</p>
<h4>2.1.2 Steuerhoheit</h4>
<p>Unter dem Begriff Steuerhoheit versteht man die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit eines Gemeinwesens, Steuern zu erheben.<sup><a title="" href="#_ftn7" name="_ftnref7">07</a></sup> In der Schweiz steht die Erbschaftssteuerhoheit in Ermangelung einer Kompetenznorm zugunsten des Bundes umfassend den Kantonen zu.<sup><a title="" href="#_ftn8" name="_ftnref8">08</a></sup> Wie und ob die Kantone von dieser Ermächtigung Gebrauch machen, steht ihnen – innerhalb der verfassungsrechtlichen Schranken – frei. In der Regel erheben die Kantone die Erbschaftssteuer selbst, zum Teil übertragen sie diese im Sinne einer abgeleiteten Steuerhoheit aber auch an die Gemeinden (z.B. in Graubünden). Alternativ lassen viele Kantone die Gemeinden am Ertrag der kantonalen Erbschaftssteuereinnahmen teilhaben, ohne dass die Gemeinden selbst eine Steuerhoheit besitzen.<sup><a title="" href="#_ftn9" name="_ftnref9">09</a></sup> Es ist zudem herauszustreichen, dass aus der Berechtigung zur Besteuerung keine Verpflichtung folgt. Die Kantone Schwyz und Obwalden haben auf ihr Recht verzichtet und erheben keine Erbschaftssteuer.<sup><a title="" href="#_ftn10" name="_ftnref10">10</a></sup></p>
<p>Die gegenwärtige Gestaltung der erbschaftssteuerlichen Kompetenzordnung ist nicht alternativlos. Als Beispiel sei hier die Volksinitiative «Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV (Erbschaftssteuerreform)» aus dem Jahre 2015 erwähnt, welche unter anderem das Ziel verfolgte, die Erhebungskompetenz der Erbschaftssteuer auf Bundesebene zu verschieben, um damit interkantonalen Steuerwettbewerb zu vermeiden und für eine einheitliche Besteuerung zu sorgen.<sup><a title="" href="#_ftn11" name="_ftnref11">11</a></sup> Anders als die Initianten kommen Opel/Schaltegger in ihrer Analyse zur Thematik Bundeserbschaftssteuer zum Schluss, dass der Status Quo (kantonale Kompetenz) sowohl rechtlich als auch ökonomisch überzeugt und kein Änderungsbedarf besteht.<sup><a title="" href="#_ftn12" name="_ftnref12">12</a></sup> Im Abschnitt 3.2.2.3. Kantonale Steuerhoheit<em> </em>wird auf diese Diskussion in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht zurückzukommen sein.</p>
<h4>2.1.3 Steuersubjekt und Steuerobjekt</h4>
<p>Steuersubjekte (und damit Träger der Steuerlast) sind diejenigen Personen, die dem Gemeinwesen als Empfänger der steuerbaren Vermögensübergänge zur Steuerleistung verpflichtet sind.<sup><a title="" href="#_ftn13" name="_ftnref13">13</a></sup> Bei der Erbschaftssteuer unterscheidet sich das Steuersubjekt je nach Ausgestaltung der Steuer. Ist die Erbschaftssteuer als Erbanfallsteuer konzipiert, so ist jeder Erbe bzw. jede Erbin einzeln als Steuersubjekt zu betrachten. Handelt es sich dagegen um eine Erbschaftssteuer in ihrer Ausgestaltung als Nachlasssteuer, trifft die subjektive Steuerlast die gesamte Erbengemeinschaft.<sup><a title="" href="#_ftn14" name="_ftnref14">14</a></sup></p>
<p>Unter dem Begriff Steuerobjekt versteht man den gesetzlich umschriebenen, wirtschaftlichen Tatbestand, dessen Vorhandensein zur Steuererhebung veranlasst.<sup><a title="" href="#_ftn15" name="_ftnref15">15</a></sup> Das Steuerobjekt der Erbschaftssteuer ist der Vermögensübergang von Todes wegen. Auch hier muss eine Differenzierung vorgenommen werden: Je nach Ausgestaltung der Erbschaftssteuer ist das Steuerobjekt der Nachlass als Ganzes (Nachlasssteuer) oder der jeweilige Vermögensübergang auf die einzelnen Erben (Erbanfallsteuer).<sup><a title="" href="#_ftn16" name="_ftnref16">16</a></sup></p>
<h4>2.1.4 Subjektive und objektive Steuerbefreiung</h4>
<p>Eine erhebliche Bedeutung im Erbschaftssteuerrecht kommt den gesetzlichen Befreiungen von der Steuerpflicht zu. Sämtliche kantonalen Gesetze sehen sowohl für den Gegenstand der Steuer als auch für den Kreis der steuerpflichtigen Personen Ausnahmetatbestände vor.<sup><a title="" href="#_ftn17" name="_ftnref17">17</a></sup></p>
<p>Aus Billigkeitsgründen werden bestimmte Vermögensübergänge von Todes wegen kategorisch von der Erbschaftssteuer ausgenommen. Unter solche sachlichen Steuerbefreiungen fallen zum Beispiel Beiträge an den Unterhalt, das Heiratsgut oder auch der Hausrat. Daneben sehen die meisten Erbschaftssteuergesetze Entlastungen der Steuerpflichtigen mittels nach Verwandtschaftsgrad abgestuften Steuerfreibeträgen vor.<sup><a title="" href="#_ftn18" name="_ftnref18">18</a></sup></p>
<p>Qualitativ und quantitativ weiter reicht die Befreiung von der subjektiven Steuerpflicht. Sämtliche kantonalen Erbschaftssteuergesetze haben von der generellen Besteuerung von Vermögensübertragungen von Todes wegen abgesehen und nehmen bestimmte Personenkreise kategorisch von der Erbschaftssteuer aus. So sind beispielsweise Vermögensübergänge an die öffentliche Hand grundsätzlich in allen Kantonen steuerfrei. Auch Institutionen mit wohltätiger oder gemeinnütziger Zwecksetzung sind mehrheitlich von der Steuerpflicht befreit.<sup><a title="" href="#_ftn19" name="_ftnref19">19</a></sup> Schliesslich sind in allen Kantonen Ehegatten und eingetragene Partner und Partnerinnen – sowie in den meisten Kantonen (alle ausser AI, VD, NE sowie gewisse Gemeinden in LU) direkte Nachkommen von der Besteuerung ausgenommen.<sup><a title="" href="#_ftn20" name="_ftnref20">20</a></sup></p>
<p>Die Vereinbarkeit dieser steuerlichen Privilegierungen mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtsgleichheit und seiner Konkretisierung im Steuerrecht (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_8" target="_blank" rel="noopener">Art. 8 Abs. 1</a> i.V.m. <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_127" target="_blank" rel="noopener">Art. 127 Abs. 2 Bundesverfassung [BV]</a>) wird in Abschnitt 2.2. Verfassungsrechtliche Schranken der Erbschaftssteuer diskutiert.</p>
<h4>2.1.5 Steuerbemessung</h4>
<h5>2.1.5.1 Zeitliche Bemessung</h5>
<p>Bei der Erbschaftssteuer handelt es sich um eine einmalige Steuer, die im Grundsatz anhand des Wertes des Vermögensanfalls im Zeitpunkt des Todes des Erblassers berechnet wird. Bei einer Nacherbeneinsetzung, einen an eine aufschiebende Bedingung geknüpften Vermögensübergang oder bei einer Ersatzverfügung für die Bemessung der Steuer wird nicht auf den Todestag des Erblassers abgestellt. Der Stichtag verschiebt sich in solchen Fällen ausnahmsweise auf einen späteren Zeitpunkt.<sup><a title="" href="#_ftn21" name="_ftnref21">21</a></sup></p>
<h5>2.1.5.2 Sachliche Bemessung</h5>
<p>Bei der sachlichen Bemessung der Erbschaftssteuer geht es um die Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage. In der Regel setzt sich diese sowohl aus Aktiven als auch aus Passiven zusammen.<sup><a title="" href="#_ftn22" name="_ftnref22">22</a></sup> Gemessen wird für die Steuerberechnung grundsätzlich der Verkehrswert (Marktwert) des Nachlasses.<sup><a title="" href="#_ftn23" name="_ftnref23">23</a></sup> Gemeint ist damit der Wert, der einem Vermögensgegenstand im wirtschaftlichen Tauschverkehr bei Kauf und Verkauf unter normalen Gegebenheiten (Angebot und Nachfrage) beigemessen wird. Einige Kantone sehen in ihren Gesetzen eigene, davon abweichende Bewertungsvorschriften vor. Für bestimmte Vermögenswerte (beispielsweise Grundstücke) bestehen zudem Spezialregelungen, die dem obigen Grundsatz vorangehen.<sup><a title="" href="#_ftn24" name="_ftnref24">24</a></sup></p>
<h4>2.1.6 Rechtsnatur</h4>
<p>Obwohl die Frage nach der Rechtsnatur einer Steuer in der Praxis kaum eine Bedeutung hat, ist ihre Behandlung auf der dogmatischen Ebene dennoch interessant. So vermag sie einen ersten Eindruck darüber zu vermitteln, welche rechtlichen Überlegungen hinter der Erhebung einer Erbschaftssteuer stehen können. Eine detailliertere Betrachtung solcher Rechtfertigungsgründe der Erbschaftssteuer wird in Abschnitt 2.3. Rechtfertigung der Erbschaftssteuer<em> </em>vorgenommen.</p>
<h5>2.1.6.1 Rechtsverkehrssteuer oder Bereicherungssteuer</h5>
<p>Über die rechtliche Einordnung der Erbschaftssteuer als Erbanfallsteuer herrscht seit jeher Uneinigkeit. Nach traditioneller Auffassung knüpft die Erbschaftssteuer an den Tatbestand der unentgeltlichen Vermögensübertragung von Todes wegen an und lässt sich demnach den Verkehrssteuern zuordnen.<sup><a title="" href="#_ftn25" name="_ftnref25">25</a></sup> Der Erbgang wird als Akt des Rechtverkehrs verstanden, welcher die Steuerschuld auslöst. Gegen diese Qualifikation wird das Argument ins Feld geführt, dass der Vermögenszufluss beim Erben im Zentrum der Betrachtung stehen sollte und nicht der Vermögensübergang inter partes. Vertreter dieser Sichtweise postulieren, dass es sich bei der Erbschaftssteuer daher eher um eine Bereicherungssteuer handelt, die in der Nähe der Einkommenssteuer anzusiedeln ist.<sup><a title="" href="#_ftn26" name="_ftnref26">26</a></sup> Der Fokus liegt hierbei auf dem Begünstigten und der Steigerung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.</p>
<p>Weitgehende Einigkeit über die Rechtsnatur herrscht hingegen bei der Erbschaftssteuer in ihrer Ausgestaltung als Nachlasssteuer. Im Sinne einer letzten Besteuerung des Erblassers wird diese einhellig als Spezialvermögenssteuer verstanden.<sup><a title="" href="#_ftn27" name="_ftnref27">27</a></sup></p>
<h5>2.1.6.2 Direkte und indirekte Steuer</h5>
<p>Von weit grösserer Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Steuern, da nur die direkten Steuern unter den Harmonisierungsauftrag des Bundes gemäss <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_129" target="_blank" rel="noopener">Art. 129 BV</a> fallen und dem Bund damit nur in diesem Bereich eine Rahmengesetzgebungskompetenz zukommt.</p>
<p>Begründet in der Tatsache, dass bereits die Unterscheidungskriterien von direkten und indirekten Steuern umstritten sind, werden auch hier verschiedene Auffassungen vertreten:</p>
<p>Direkte Steuern kennzeichnen sich nach der insbesondere im Ausland vorherrschenden Ansicht dadurch, dass derjenige, der die Steuer schuldet und derjenige, der die Steuerlast am Ende tatsächlich trägt, identisch sind.<sup><a title="" href="#_ftn28" name="_ftnref28">28</a></sup> Im Gegensatz dazu können indirekte Steuern vom Steuerschuldner auf den Steuerträger überwälzt werden. Da der Erbe im Falle einer Erbschaft zugleich Steuerschuldner und Steuerträger ist, handelt es sich bei der Erbschaftssteuer nach dieser Auffassung um eine direkte Steuer.<sup><a title="" href="#_ftn29" name="_ftnref29">29</a></sup> Nach der Schweizer Lehre stellt man hingegen nicht auf das Kriterium der Identität resp. Überwälzbarkeit ab, sondern unterscheidet danach, ob Steuerobjekt und Steuerbemessungsgrundlage zusammen- (direkte Steuer) oder auseinanderfallen (indirekte Steuer). Hierbei kommt es darauf an, welcher oben dargelegten Qualifikation man folgt. Versteht man die Erbschaftssteuer als Rechtsverkehrssteuer, so fallen der Rechtsverkehrsakt des Vermögensübergangs als Steuerobjekt und der Wert des übertragenen Vermögens als Steuerbemessungsgrundlage auseinander und es handelt sich um eine indirekte Steuer.<sup><a title="" href="#_ftn30" name="_ftnref30">30</a></sup> Fasst man die Erbschaftssteuer dagegen als Bereicherungssteuer auf, so stellt die Bereicherung zugleich Steuerobjekt und Steuerbemessungsgrundlage dar, was im Ergebnis eine Definition als direkte Steuer verlangt.<sup><a title="" href="#_ftn31" name="_ftnref31">31</a></sup></p>
<p>Dass die Erbschaftssteuer ausdrücklich nicht zum Gegenstand der Steuerharmonisierung gemacht wurde, lässt darauf schliessen, dass der Verfassungsgeber sie als indirekte Steuer festlegte.<sup><a title="" href="#_ftn32" name="_ftnref32">32</a></sup> In der Literatur wird diese Ansicht teilweise bestritten und die Erbschaftssteuer mit Fokus auf ihren Bereicherungsaspekt den direkten Steuern zugeordnet.<sup><a title="" href="#_ftn33" name="_ftnref33">33</a></sup></p>
<h4>2.1.7 Verhältnis zu anderen Steuern</h4>
<p>Abschliessend gilt es die Erbschaftssteuer im Gesamtsystem des Steuerrechts einzuordnen und von anderen Steuerarten abzugrenzen.</p>
<p>Obwohl Erbschaften nach der Reinvermögenszugangstheorie<sup><a title="" href="#_ftn34" name="_ftnref34">34</a></sup> grundsätzlich steuerbares Einkommen darstellen, fallen sie nicht unter die Einkommenssteuer und werden, mit der Absicht das kantonale Steuersubstrat zu wahren, in <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1184_1184_1184/de#art_24" target="_blank" rel="noopener">Art. 24 lit. a Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer (DBG)</a> ausdrücklich von dieser ausgenommen.<sup><a title="" href="#_ftn35" name="_ftnref35">35</a></sup></p>
<p>Sowohl die Erbschaftssteuer als auch die Vermögenssteuer erfassen bereits vorhandene Vermögen. Erstere beschlägt jedoch den Besitz des Vermögensbestandes bei dessen Inhaber, wogegen Letztere die Vermögenssubstanz erst anlässlich des Vermögensübergangs von Todes wegen beim Erben besteuert.<sup><a title="" href="#_ftn36" name="_ftnref36">36</a></sup></p>
<p>Systematisch nahe der Erbschaftssteuer liegt sodann auch die Schenkungssteuer. Im Gegensatz zur Erbschaftssteuer beschlägt sie unentgeltliche Vermögenszuwendungen zu Lebzeiten.<sup><a title="" href="#_ftn37" name="_ftnref37">37</a></sup></p>
<h3>2.2 Verfassungsrechtliche Schranken der Erbschaftssteuer</h3>
<p>Wie in Abschnitt 2.1.2. Steuerhoheit aufgezeigt wurde, verfügen die Kantone im Bereich der Erbschaftssteuer über eine uneingeschränkte Steuerhoheit. Trotz dieser umfassenden Erhebungskompetenz sind sie bei der Ausübung dieser Befugnis an die verfassungsrechtlichen Steuergrundsätze gebunden. Im Folgenden werden die (für die anschliessende Gerechtigkeitsbetrachtung) relevanten Verfassungsschranken vorgestellt, im Hinblick auf die Erbschaftssteuer diskutiert und auf ihre Umsetzung überprüft. Die Betrachtung konzentriert sich auf allgemeine Aspekte und klammert interkantonale Unterschiede mehrheitlich aus.</p>
<h4>2.2.1 Verfassungsmässige Grundsätze der Besteuerung</h4>
<p>Die verfassungsrechtlichen Steuererhebungsprinzipien bilden die Grundlage einer gerechten Steuerordnung.<sup><a title="" href="#_ftn38" name="_ftnref38">38</a></sup> Unter Beachtung von finanz-, sozial- und steuerpolitischen Aspekten vermögen es diese Grundsätze, sachgerechte Richtlinien für eine dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfindenden entsprechende Steuerausgestaltung darzustellen.<sup><a title="" href="#_ftn39" name="_ftnref39">39</a></sup> Die Prinzipien der Besteuerung stecken den Rahmen, in dem sich Rechtssetzung und Rechtsanwendung im Steuerrecht bewegen dürfen.<sup><a title="" href="#_ftn40" name="_ftnref40">40</a></sup></p>
<p>Die Bundesverfassung normiert in <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_127" target="_blank" rel="noopener">Art. 127 Abs. 2 BV</a> den Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung, den Grundsatz der Gleichmässigkeit der Besteuerung sowie den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Diese drei Prinzipien stellen eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes in <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_8" target="_blank" rel="noopener">Art. 8 BV</a> und des Willkürverbots in <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_9" target="_blank" rel="noopener">Art. 9 BV</a> dar.<sup><a title="" href="#_ftn41" name="_ftnref41">41</a></sup></p>
<p>Trotz der Formulierung «Soweit es die Art der Steuer zulässt […]» in <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_127" target="_blank" rel="noopener">Art. 127 Abs. 2 BV</a> ist heute weithin anerkannt, dass die Besteuerungsgrundsätze im gesamten Steuerbereich zur Anwendung kommen und somit auch für die Erbschaftssteuer Geltung beanspruchen.<sup><a title="" href="#_ftn42" name="_ftnref42">42</a></sup></p>
<h5>2.2.1.1 Grundsatz der Allgemeinheit</h5>
<h6>2.2.1.1.1 Zum Grundsatz</h6>
<p>Der Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung bezieht sich auf die subjektive Seite des Steuerrechtsverhältnisses. Es wird gefragt, welcher Kreis an steuerpflichtigen Personen einer bestimmten Steuerart unterworfen werden soll.<sup><a title="" href="#_ftn43" name="_ftnref43">43</a></sup> Prinzipiell verlangt das Prinzip der Allgemeinheit, dass der Finanzaufwand des Staates von allen steuerpflichtigen Personen gemeinsam getragen wird.<sup><a title="" href="#_ftn44" name="_ftnref44">44</a></sup> Unabhängig von persönlichen Merkmalen wie Herkunft, Stand oder Geschlecht soll jeder und jede gleichermassen zu Steuerleistung verpflichtet sein.<sup><a title="" href="#_ftn45" name="_ftnref45">45</a></sup> Im gleichen Masse wie alle Bürgerinnen und Bürger resp. Einwohnerinnen und Einwohner von den staatlichen Leistungen profitieren, haben alle ihren Teil der Staatslasten zu tragen.<sup><a title="" href="#_ftn46" name="_ftnref46">46</a></sup> Gemäss Bundesgericht verlangt der Grundsatz der Allgemeinheit, «dass alle Personen oder Personengruppen nach denselben gesetzlichen Regeln erfasst werden; Ausnahmen, für die kein sachlicher Grund besteht, sind unzulässig».<sup><a title="" href="#_ftn47" name="_ftnref47">47</a></sup> Bezweckt wird damit die Verhinderung jeglicher Art von Privilegierung bzw. Diskriminierung einzelner Personen oder Personengruppen, woraus sich wiederum zwei Verbote ableiten lassen:</p>
<h6>2.2.1.1.1.1 Privilegierungsverbot</h6>
<p>Grundsätzlich verbietet das Prinzip der Allgemeinheit Steuerprivilegien. Ohne Rechtfertigung ist es weder zulässig die wirtschaftlich schlechter gestellten noch die wohlsituierten Steuerpflichtigen zu begünstigen.<sup><a title="" href="#_ftn48" name="_ftnref48">48</a></sup> Dem Privilegierungsverbot zufolge sind Ausnahmen von der Steuerbelastung ausschliesslich dann gestattet, wenn sachliche Gründe dafürsprechen. Ein solcher Fall wäre beispielsweise dann gegeben, wenn wesentliche Unterschiede in den wirtschaftlichen Verhältnissen der Steuersubjekte bestehen oder wenn die Steuerbefreiung durch den Zweck der Steuer beziehungsweise durch steuersystematische Überlegungen zu rechtfertigen sind.<sup><a title="" href="#_ftn49" name="_ftnref49">49</a></sup></p>
<h6>2.2.1.1.1.2 Diskriminierungsverbot</h6>
<p>Das Diskriminierungsverbot verbietet eine sachlich unbegründete Ungleichverteilung der Steuerlasten. Gemäss Bundesgericht ist es unzulässig, wenigen Steuerpflichtigen im Verhältnis zu ihrer Leistungsfähigkeit eine erheblich grössere Steuerlast aufzuerlegen als der Masse der übrigen Steuerpflichtigen.<sup><a title="" href="#_ftn50" name="_ftnref50">50</a></sup></p>
<h6>2.2.1.1.2 Zur Umsetzung</h6>
<p>Im Kontext der Erbschaftssteuer stellt sich in Bezug auf den Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung insbesondere die Frage nach der Rechtmässigkeit von subjektiven Steuerbefreiungen.</p>
<p>Die in den meisten kantonalen Erbschaftsgesetzen vorgesehenen Begünstigungen von überlebenden Ehegatten bzw. eingetragenen Partnern und Partnerinnen und direkten Nachfahren des Erblassers stellen Privilegien dar, welche einer sachlichen Begründung bedürfen, um nicht als verfassungswidrig zu gelten. Das Bundesgericht rechtfertigt die derart gestalteten Erbschaftssteuerordnungen mit der verfassungsrechtlich geschützten, gesellschaftlichen Stellung von Ehe und Familie (Familienprinzip). Solche Steuerbefreiungen führen, so das Gericht, zur Förderung der Verwirklichung der familiären, sozialen und moralischen Ziele, die dem privaten Erbrecht zugrunde liegen.<sup><a title="" href="#_ftn51" name="_ftnref51">51</a></sup> Auch in Teilen der Literatur werden Ehe und Familie als Grundbausteine des sozialen Zusammenlebens betrachtet, dessen schonende Steuerbelastung geboten scheint.<sup><a title="" href="#_ftn52" name="_ftnref52">52</a></sup> Solche Lebensgemeinschaften tragen demnach wesentlich zu einer stabilen Gesellschaft bei, was den Staat in seiner Wohlfahrtspflicht unterstützt und die Steuerbefreiung somit zu rechtfertigen vermag.<sup><a title="" href="#_ftn53" name="_ftnref53">53</a></sup></p>
<p>Ob beziehungsweise wie stark der Staat auf Zuwendungen von Todes wegen eingreifen darf, hängt demzufolge vom Näheverhältnis zwischen Erblasser und Erben ab. Da sich die Natur eines solchen Verhältnisses in der Realität kaum je nachweisen lassen wird, stellen die kantonalen Erbschaftssteuergesetze auf äussere Umstände, namentlich den Verwandtschaftsgrad resp. die Ehe oder die eingetragene Partnerschaft ab.<sup><a title="" href="#_ftn54" name="_ftnref54">54</a></sup></p>
<p>Doch ist diese Wahrnehmung der Bedeutung von Ehe und Familie überhaupt noch zeitgemäss und eine finanzielle Entlastung an dieser Stelle wirklich gerechtfertigt? Die soziale Realität zeigt, dass sich die Bedeutung der Familie weitestgehend auf ihren Kern reduziert hat.<sup><a title="" href="#_ftn55" name="_ftnref55">55</a></sup> Grossfamilien haben einen beachtlichen Teil ihrer Bedeutung eingebüsst und diese Entwicklung muss auch das Erbschaftssteuerrecht berücksichtigen. Hinzu kommt, dass Erbschaften heutzutage in der Regel nicht mehr der Existenzsicherung der Verwandten dienen, sondern mehrheitlich für die Sicherung eines bestimmten Lebensstandards eingesetzt werden.<sup><a title="" href="#_ftn56" name="_ftnref56">56</a></sup> Die Begünstigung von entfernten Verwandten ist nicht mehr gerechtfertigt, findet sie allein aufgrund eines formalen Verwandtschaftsbandes statt.<sup><a title="" href="#_ftn57" name="_ftnref57">57</a></sup></p>
<p>Auf der anderen Seite führt auch die subjektive Steuerbefreiung von direkten Nachkommen und Ehegatten resp. eingetragenen Partnern und Partnerinnen zu einer Diskriminierung. Personen mit einem alternativen Lebensentwurf, Personen also, die sich beispielsweise entscheiden, keine Kinder zu haben, ein Zusammenleben im Konkubinat zu führen oder ohne Partnerschaft zu bleiben, werden durch diese Regelung benachteiligt. Denn diejenigen Personen, denen sie vererben können, unterliegen höheren Steuersätzen. Begünstigt wird ein klassisches Familienmodell, welches nicht mehr der gesamten, gelebten Realität entspricht.<sup><a title="" href="#_ftn58" name="_ftnref58">58</a></sup> Mit der gegenwärtigen Erbschaftssteuerausgestaltung schaffen die Kantone Anreize für ledige, kinderlose und/oder im Konkubinat lebende Personen, ihr Vermögen am Ende ihres Lebens aufzubrauchen, anstatt es beispielsweise an Lebenspartner, Patenkinder oder Freunde zu vererben. Das ist weder effizient noch sozial. Im Sinne der Testierfreiheit sollte es meines Erachtens möglich sein, unbeeinflusst von erbschaftssteuerlichen Überlegungen zu entscheiden, wem man sein Vermögen vermachen will.</p>
<p>Die Forderung nach der Abschaffung der Erbschaftsteuerprivilegien für Ehegatten und direkte Nachkommen wird in der Schweiz immer wieder aufs politische Parkett gebracht, bisher jedoch kam es nicht zur Realisierung.<sup><a title="" href="#_ftn59" name="_ftnref59">59</a></sup> Die Kantone fürchten sich davor, im interkantonalen Konkurrenzverhältnis an Attraktivität zu verlieren und wohlhabende Erblasser und Erblasserinnen mit einer solchen Regelung zu vertreiben oder abzuschrecken.<sup><a title="" href="#_ftn60" name="_ftnref60">60</a></sup> Gemässigter und damit möglicherweise mehrheitsfähiger wäre der Vorschlag von Hangartner, der die subjektive Steuerbegünstigung davon abhängig machen will, wen der Erblasser in seinem Testament begünstigt. Mit einer solchen Regelung könnte den realen sozialen Gegebenheiten in der heutigen Gesellschaft besser Rechnung getragen werden und auch diejenigen Personen begünstigt werden, die, nebst den ohnehin in den Genuss der Erbschaftssteuerprivilegien kommenden Pflichteilsempfängern, dem Erblasser nahestanden.<sup><a title="" href="#_ftn61" name="_ftnref61">61</a></sup> Problematisch an diesem Vorschlag ist die Tatsache, dass eine derartige Erweiterung je nach Ausgestaltung der möglichen subjektiven Steuerbefreiungen eine massive Einbusse an Steuereinahmen mit sich bringen könnte.</p>
<h5>2.2.1.2 Grundsatz der Gleichmässigkeit</h5>
<p>Während der Grundsatz der Allgemeinheit in erster Linie die Steuersubjekte betrifft, beschlägt der Grundsatz der Gleichmässigkeit die objektive Seite des Steuerrechtsverhältnisses.<sup><a title="" href="#_ftn62" name="_ftnref62">62</a></sup> Er verlangt, dass die Steuerlast gleichmässig auf die Steuerpflichtigen verteilt wird, indem gleiche oder gleichartige Sachverhalte in derselben Weise erfasst respektive freigestellt werden. Andererseits bedeutet das, dass wesentlich unterschiedliche Verhältnisse auch einer unterschiedlichen steuerrechtlichen Behandlung bedürfen.<sup><a title="" href="#_ftn63" name="_ftnref63">63</a></sup></p>
<p>In der Praxis wird der Grundsatz der Gleichmässigkeit faktisch vom dritten Grundsatz, der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, konsumiert und vom Bundesgericht nicht separat geprüft.<sup><a title="" href="#_ftn64" name="_ftnref64">64</a></sup> Aus diesem Grund wird an dieser Stelle auf weitere Ausführungen verzichtet.</p>
<h5>2.2.1.3 Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit</h5>
<h6>2.2.1.3.1 Zum Grundsatz</h6>
<p>Grundlegend für eine gerechte Ausgestaltung des schweizerischen Steuersystems ist der Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.<sup><a title="" href="#_ftn65" name="_ftnref65">65</a></sup> Das sogenannte Leistungsfähigkeitsprinzip bildet den zentralen Massstab für eine rechtsgleiche und willkürfreie Besteuerung.<sup><a title="" href="#_ftn66" name="_ftnref66">66</a></sup> Dem Grundsatz zufolge soll jede steuerpflichtige Person im Verhältnis der ihr zu Verfügung stehenden Mittel und der ihre Leistungsfähigkeit beeinflussenden persönlichen Verhältnisse an den Finanzbedarf des Gemeinwesens beitragen.<sup><a title="" href="#_ftn67" name="_ftnref67">67</a></sup> Betrachtet wird einerseits die finanzielle Situation des Steuerpflichtigen und andererseits der individuelle Bedarf, insbesondere die Personenanzahl, deren Unterhalt aus den verfügbaren Finanzen bestritten werden muss.<sup><a title="" href="#_ftn68" name="_ftnref68">68</a></sup> Das Leistungsfähigkeitsprinzip verfolgt das Ziel einer relativen Gleichbehandlung.<sup><a title="" href="#_ftn69" name="_ftnref69">69</a></sup> Angestrebt wird, dass die wirtschaftliche Belastung durch die Besteuerung bei allen Steuerpflichtigen gleich schwer wiegt respektive alle das gleiche «Opfer» erbringen müssen.<sup><a title="" href="#_ftn70" name="_ftnref70">70</a></sup> Diese, den Finanzwissenschaften entstammende, Opfertheorie verlangt, dass die Steuerlast mit steigendem Einkommen respektive höherem Vermögen wächst.<sup><a title="" href="#_ftn71" name="_ftnref71">71</a></sup> Begründet wird diese Theorie mit dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Was damit gemeint ist, lässt sich am besten mit einem Zahlenbeispiel verdeutlichen: Für eine Person, die ein Vermögen von CHF 1000.– hat, sind CHF 100.– zusätzlich von grösserem Wert respektive «nützlicher» als für eine Person, die bereits ein Vermögen von CHF 1’000'000.– hat und es auf CHF 100.– mehr oder weniger nicht ankommt. Aus dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzen leitet sich folglich ab, dass die prozentual höhere Besteuerung grösserer Einkommen und Vermögen gerechtfertigt ist.<sup><a title="" href="#_ftn72" name="_ftnref72">72</a></sup></p>
<p>Der Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit setzt sich zusammen aus dem Prinzip der horizontalen Steuergerechtigkeit und dem Prinzip der vertikalen Steuergerechtigkeit.<sup><a title="" href="#_ftn73" name="_ftnref73">73</a></sup> In horizontaler Richtung sollen Personen, deren wirtschaftliche Verhältnisse gleich sind, gleich besteuert werden.<sup><a title="" href="#_ftn74" name="_ftnref74">74</a></sup> Dieses Prinzip ist unbestritten und verhältnismässig leicht umzusetzen. Schwieriger gestaltet sich die Umsetzung der vertikalen Steuergerechtigkeit. So sollen steuerpflichtige Personen in unterschiedlicher wirtschaftlicher Lage, sachgerecht unterschiedlich besteuert werden. Die Vergleichbarkeit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist in vertikaler Richtung jedoch geringer, was die Beurteilung der Gerechtigkeit eines Steuersatzes erschwert.<sup><a title="" href="#_ftn75" name="_ftnref75">75</a></sup> Aus dem Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit lässt sich daher keine exakte Angabe ableiten, um wie viel die Steuer zunehmen soll, wenn sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhöht.<sup><a title="" href="#_ftn76" name="_ftnref76">76</a></sup></p>
<p>Gemäss der vorherrschenden Lehrmeinung verlangt der Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eine progressive Ausgestaltung der Besteuerung.<sup><a title="" href="#_ftn77" name="_ftnref77">77</a></sup> Das Bundesgericht ist in der Beurteilung der Progressionsfrage zurückhaltend, hat aber im «Fall Obwalden» entschieden, dass degressive Steuersätze im Bereich der Einkommenssteuer gegen den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verstossen.<sup><a title="" href="#_ftn78" name="_ftnref78">78</a></sup></p>
<h6>2.2.1.3.2 Zur Umsetzung</h6>
<p>Auch die Erbschaftssteuer unterliegt dem Verfassungsprinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. In der Schweiz wird diesem Grundsatz in zweierlei Hinsicht Rechnung getragen. Zum einen haben sich alle (eine Erbschaftssteuer erhebenden) Kantone für deren Ausgestaltung als Erbanfallsteuer entschieden, was die Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des einzelnen Empfängers ermöglicht. Zum anderen ist neben der proportionalen Abstufung der Steuertarife nach Verwandtschaftsgrad in etwa der Hälfte der Schweizer Kantone eine Progression bei der Tarifgestaltung nach Höhe des Vermögensanfalls vorgesehen.<sup><a title="" href="#_ftn79" name="_ftnref79">79</a></sup></p>
<p>Von Mäusli-Allenspach wird vertreten, dass dem Leistungsfähigkeitsprinzip im Bereich der Erbschaftssteuer aufgrund ihrer Aperiodizität im Gegensatz zur Einkommenssteuer nur eine marginale Bedeutung zukommt.<sup><a title="" href="#_ftn80" name="_ftnref80">80</a></sup> Diese Position überzeugt meines Erachtens nicht, denn auch wenn es sich bei einer Erbschaft nur um einen einmaligen Finanzzufluss handelt, geht damit dennoch eine Steigerung der Leistungsfähigkeit einher. Ratio legis des Grundsatzes der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist es, rechtsgleich und willkürfrei zu besteuern.<sup><a title="" href="#_ftn81" name="_ftnref81">81</a></sup> In welcher Regelmässigkeit die Steigerung der Leistungsfähigkeit eintritt, kann daher nicht von Bedeutung sein.</p>
<p>Problematischer erscheint die Tatsache, dass mit der an der Höhe der Erbschaftssumme ausgerichteten progressiven Tarifgestaltung die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Erben nicht realitätsgetreu erfasst wird. Abzustellen wäre nicht allein auf die Höhe des Vermögensanfalls beim Erben, sondern zudem auf dessen tatsächliche wirtschaftliche Verhältnisse im Zeitpunkt des Erbanfalls (Einkommen und Vermögen).<sup><a title="" href="#_ftn82" name="_ftnref82">82</a></sup> Eine Erbschaft, welche beispielsweise zur Deckung offener Schulden direkt «konsumiert» wird, steigert die Leistungsfähigkeit nicht. Allein die Höhe der empfangenen Zuwendung kann daher kein Massstab dafür sein, um wie viel die Leistungsfähigkeit des Empfängers oder der Empfängerin zugenommen hat. Um die steuerliche Belastung tatsächlich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Pflichtigen auszurichten, müsste eine Gesamtbetrachtung dessen ökonomischen Verhältnisse vorgenommen werden.<sup><a title="" href="#_ftn83" name="_ftnref83">83</a></sup> </p>
<p>Schliesslich müssen auch unter dem Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit die subjektiven Steuerbefreiungen kritisch beurteilt werden.<sup><a title="" href="#_ftn84" name="_ftnref84">84</a></sup> Ehegatten, eingetragene Partner und Partnerinnen und direkte Nachkommen werden mit einer Erbschaft wirtschaftlich genauso bessergestellt wie alle anderen Erben. Eine konsequente Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips würde folglich auch in diesen Konstellationen eine Besteuerung verlangen. Nach den Prinzipien der horizontalen und vertikalen Steuergerechtigkeit rechtfertigen sich die in den meisten Erbschaftssteuergesetzen vorgesehenen, subjektiven Steuerprivilegien daher nicht.</p><h4>2.2.2 Eigentumsgarantie nach Art. 26 BV</h4>
<p>Die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie gewährleistet das Eigentum des Individuums gegenüber dem Gemeinwesen. <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_26" target="_blank" rel="noopener">Art. 26 BV</a> enthält drei Teilgehalte: Die sogenannte Institutsgarantie schützt das Eigentum in seinem Wesensgehalt als fundamentale Einrichtung der Rechtsordnung, die Eigentumsgarantie als Bestandesgarantie schützt die konkreten Eigentumsrechte des Einzelnen – also Verwendung und Veräusserung – vor staatlichen Eingriffen und als Drittes gewährleistet die sogenannte Wertgarantie unter Umständen eine Entschädigung bei gerechtfertigter Einschränkung der individuellen Eigentumsrechte.<sup><a title="" href="#_ftn85" name="_ftnref85">85</a></sup></p>
<p>Für das Steuerrecht von Bedeutung ist die Eigentumsgarantie insbesondere in ihrer Ausgestaltung als Institutsgarantie, welche den Schutz vor einer konfiskatorischen Besteuerung beinhaltet.<sup><a title="" href="#_ftn86" name="_ftnref86">86</a></sup> Die steuerliche Belastung muss mit dem erworbenen Vermögen beglichen werden können, ohne dass ein Eingriff in die Vermögensubstanz getätigt werden muss. Die Möglichkeit der Neubildung von Vermögen ist zu erhalten und das Privateigentum darf nicht ausgehöhlt werden.<sup><a title="" href="#_ftn87" name="_ftnref87">87</a></sup> Die Frage, wie weit der Fiskus bei der Erhebung von Steuern gehen darf, ohne das Verbot der konfiskatorischen Besteuerung zu verletzen, ist umstritten.<sup><a title="" href="#_ftn88" name="_ftnref88">88</a></sup> Das Bundesgericht war in seiner bisherigen Rechtsprechung sehr zurückhaltend mit der Annahme einer Verletzung der Eigentumsgarantie im Steuerrecht und hat bis heute erst in einem einzigen Fall eine Besteuerung als konfiskatorisch beurteilt.<sup><a title="" href="#_ftn89" name="_ftnref89">89</a></sup></p>
<p>Um zu klären, ob eine konfiskatorische Besteuerung vorliegt, müssen stets die Gesamtbelastung des Steuerpflichtigen sowie die konkreten Umstände des Einzelfalles betrachtet werden.<sup><a title="" href="#_ftn90" name="_ftnref90">90</a></sup> Es wäre falsch, eine Steuer zu beurteilen, ohne den Kontext zu würdigen, in dem sie erhoben wird.<sup><a title="" href="#_ftn91" name="_ftnref91">91</a></sup></p>
<p>Für die Erbschaftssteuer sind diesbezüglich insbesondere ihre Einmaligkeit und ihre Abstufung je nach Näheverhältnis resp. Verwandtschaftsgrad zum Erblasser von Bedeutung.</p>
<p>Eine hohe Erbschaftssteuer tritt erst dann in Konflikt mit der Eigentumsgarantie, wenn ihr Empfänger kein Vermögen besitzt und nur über geringes Einkommen verfügt und die Erbschaft nicht in liquiden Mitteln anfällt, sondern beispielsweise ein Unternehmen oder eine Liegenschaft beinhaltet.<sup><a title="" href="#_ftn92" name="_ftnref92">92</a></sup> Vermag der Erbe die Erbschaftssteuer in dieser Konstellation nicht aus seinen bestehenden Finanzmitteln zu begleichen, ist er gezwungen, das Geerbte zu verkaufen, um so seine Steuerschuld zu tilgen. Es handelt sich dabei zwar nicht um einen Substanzeingriff, denn belastet wird in diesem Fall nur das Zugeflossene und eben gerade nicht die bestehende Vermögenssubstanz des Pflichtigen. Dennoch sind solche Umstände im Hinblick auf die Eigentumsgarantie problematisch. Übereinstimmend mit Höhn ist hier festzuhalten, dass auch die Eigentumsgarantie in ihrer Ausgestaltung als Bestandesgarantie in Einzelfällen als Schranke gegen exzessive Steuerbelastung herangezogen werden kann.<sup><a title="" href="#_ftn93" name="_ftnref93">93</a></sup> Eine Ausweitung der Verfassungsmässigkeitsprüfung – unter dem Aspekt der Bestandesgarantie – erscheint zwingend für ein individuell gerechtes Urteil, ob die Eigentumsgarantie mit einer Steuer verletzt wird.<sup><a title="" href="#_ftn94" name="_ftnref94">94</a></sup></p>
<p>Schliesslich wird vor dem Hintergrund der Eigentumsgarantie das Argument ins Feld geführt, eine hohe Besteuerung von Erbschaften sei problematisch, da es sich bei dem zu besteuernden Erbe um ein bereits einkommens- und vermögenssteuerrechtlich vorbelastetes Substrat handeln soll.<sup><a title="" href="#_ftn95" name="_ftnref95">95</a></sup> Warum dieser Ansicht nicht beizupflichten und der Vorwurf der Doppelbesteuerung zurückzuweisen ist, wird am Ende des folgenden Abschnitts thematisiert.</p>
<h3>2.3 Rechtfertigung der Erbschaftssteuer</h3>
<p>Ein wichtiger Baustein für die in dieser Arbeit zu behandelnde Frage nach der gerechten Ausgestaltung einer Erbschaftssteuer ist die grundsätzlichere Frage nach deren Rechtfertigung. Es gilt zu klären, warum wir als Gesellschaft den Staat überhaupt am Übergang von Vermögenswerten zum Todeszeitpunkt partizipieren lassen. In der Folge werden verschiedene Ansätze präsentiert, die versuchen, diese Frage zu beantworten. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird unter Heranzug der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls erneut auf die Rechtfertigung der Erbschaftssteuer einzugehen sein.</p>
<p>Seit jeher besteht Uneinigkeit darüber, wie eine gerechte Ausgestaltung einer Erbschaftsteuer auszusehen hat. In der neueren Literatur wird nun auch vermehrt die grundsätzliche Daseinsberechtigung der Besteuerung von Erbschaften hinterfragt.<sup><a title="" href="#_ftn96" name="_ftnref96">96</a></sup> Die Auffassungen gehen von der vollkommenen Ablehnung einer Erbschaftssteuer – da diese einen unzulässigen Eingriff ins Familieneigentum darstelle – bis hin zur Forderung nach einer Konfiskation der Erbschaft, weil die Berechtigung am Vermögenserwerb durch Erbschaft an sich in Frage gestellt wird.<sup><a title="" href="#_ftn97" name="_ftnref97">97</a></sup> Nachfolgend wird zunächst auf die Forderung der Abschaffung einer Erbschaftssteuer eingegangen und im Anschluss versucht, dieses Postulat mittels verschiedenen Rechtfertigungsansätzen zu entkräften und eine plausible Erklärung zu finden, die für die Erhebung einer Erbschaftssteuer spricht.</p>
<h4>2.3.1 Erbschaftssteuer abschaffen?</h4>
<p>In der Literatur wird teilweise die Meinung vertreten, dass auf den Vermögensübergang von Todes wegen keine Steuern entfallen sollten.<sup><a title="" href="#_ftn98" name="_ftnref98">98</a></sup> Verschiedene europäische Staaten – darunter auch unser Nachbarstaat Österreich – folgen dieser Haltung und haben sich für eine ersatzlose Abschaffung der Erbschaftssteuer entschieden.<sup><a title="" href="#_ftn99" name="_ftnref99">99</a></sup> Argumentiert wird damit, dass die Besteuerung von Erbschaften mit der Eigentumsfreiheit nicht vereinbar ist. Eigentum sei demnach Privatsache, in welche der Staat nicht einzugreifen habe. Daneben wird von Gegnern der Erbschaftssteuer gerne das Prinzip der Leistungsfähigkeit herangezogen und dahingehend verstanden, dass durch die Besteuerung von Erbschaften die Leistungsfähigkeit – und insbesondere die Leistungsbereitschaft – beim Erblasser beschnitten wird. Das Vermögen wurde Kraft der eigenen Arbeit angehäuft und ein Eingriff mittels Erbschaftssteuer stellt eine ungerechtfertigte Beteilung am Erfolg anderer dar, so die Begründung. Weiter wird den Befürwortern der Erbschaftssteuer regelmässig vorgeworfen, dass sie aus Neid argumentieren und wohlhabenden Personen ihr Vermögen nicht gönnen. Zuletzt fällt als Grund für die Abschaffung der Erbschaftssteuer immer wieder das Verbot der Doppel- oder Mehrfachbesteuerung. Gemäss dieser Auffassung unterlag die Erbschaft bereits der Vermögenssteuer und eine erneute Abführung von Kapital käme somit einer Konfiskation gleich.<sup><a title="" href="#_ftn100" name="_ftnref100">100</a></sup></p>
<p>Konträr zur oben präsentierten Ansicht, dass die Besteuerung von Erbschaften abzulehnen ist, sollen im folgenden Abschnitt verschiedene Argumente ins Feld geführt werden, welche für die Erhebung einer Erbschaftssteuer sprechen.</p>
<h4>2.3.2 Rechtfertigungsgrundsätze</h4>
<h5>2.3.2.1 Die Erbschaftssteuer als Gegenleistung</h5>
<p>Früher wurde zum Teil die These vertreten, dass die Erbschaftssteuer eine Art Entgelt dafür sei, dass der Staat unser Eigentum schützt und damit einen Eigentumsübergang von Todes wegen überhaupt erst möglich macht.<sup><a title="" href="#_ftn101" name="_ftnref101">101</a></sup> Die Erbschaftssteuer stellt gemäss dieser Auffassung so etwas wie eine Versicherungsprämie dar, die zum Zeitpunkt des Erbanfalls fällig wird.<sup><a title="" href="#_ftn102" name="_ftnref102">102</a></sup> Ausgedrückt wird, dass ohne die staatliche Infrastruktur und die herrschenden gesetzlichen Rahmenbedingungen ein persönliches Vermögen gar nicht erst gebildet werden könnte.<sup><a title="" href="#_ftn103" name="_ftnref103">103</a></sup> Heute gilt dieser Ansatz weitgehend als überholt. Es überzeugt nicht, warum ausgerechnet die Erbschaftssteuereinnahmen als Gegenleistung für die staatlich gewährleistete Eigentumsgarantie hinhalten müssen. Des Weiteren wird von Kritikern angeführt, dass die Erbschaftssteuer – sollte sie als Entgelt verstanden werden – aufgrund ihrer Höhe in einer nicht zu rechtfertigenden Unverhältnismässigkeit zur staatlichen Leistung steht.<sup><a title="" href="#_ftn104" name="_ftnref104">104</a></sup></p>
<h5>2.3.2.2 Die Erbschaftssteuer als Handänderungsabgabe</h5>
<p>Alternativ wurde die Erbschaftssteuer schlicht als Handänderungsabgabe betrachtet, welche an den Rechtsakt des Vermögenswechsels anknüpft.<sup><a title="" href="#_ftn105" name="_ftnref105">105</a></sup> Spiegelbildlich zum Vermögensverkehr unter Lebenden, welcher mit der Schenkungssteuer erfasst wird, beschlägt die Erbschaftsteuer den Vermögensübertrag von Todes wegen.<sup><a title="" href="#_ftn106" name="_ftnref106">106</a></sup> Auch diese Ansicht wurde mittlerweile als nicht sachgerecht verworfen, da mit ihr weder die Rücksichtnahme auf die Leistungsfähigkeit noch die subjektiven Steuerprivilegien der Erbschaftssteuer erklärt werden können.<sup><a title="" href="#_ftn107" name="_ftnref107">107</a></sup></p>
<h5>2.3.2.3 Kontrollfunktion</h5>
<p>Zum Teil wurde auch die Meinung vertreten, dass die Erbschaftssteuer eine Kontrollfunktion darstellt.<sup><a title="" href="#_ftn108" name="_ftnref108">108</a></sup> Durch die Besteuerung des Vermögens von Todes wegen sollen allfällige, zu Lebzeit begangene Steuerumgehungen aufgedeckt und rückwirkend geahndet werden.<sup><a title="" href="#_ftn109" name="_ftnref109">109</a></sup> Auch dieser Rechtfertigungsversuch vermag nicht zu überzeugen. Das unlautere Verhalten Einzelner kann nicht als Begründung für eine allgemeine Steuerpflicht herangezogen werden und in der Konsequenz auch jene Erblasser bestrafen, die ihr Vermögen immer korrekt deklariert haben. Im Weiteren erscheint es äusserst fraglich, wie steuersystematische oder erhebungstechnische Mängel bei einer Steuer eine andere Steuer rechtfertigen sollen.<sup><a title="" href="#_ftn110" name="_ftnref110">110</a></sup></p>
<h5>2.3.2.4 Leistungsfähigkeitstheorie</h5>
<p>In der moderneren Lehre wird die Leistungsfähigkeitstheorie als Rechtfertigung für die Erbschaftssteuer herangezogen.<sup><a title="" href="#_ftn111" name="_ftnref111">111</a></sup> Ins Auge gefasst wird hierbei im Unterschied zum Verständnis der Erbschaftssteuergegner nicht die Leistungsfähigkeit des Erblassers, sondern jene des Erben, welcher, ohne eine Gegenleistung dafür zu erbringen, durch die Erbschaft eine Bereicherung erfährt.<sup><a title="" href="#_ftn112" name="_ftnref112">112</a></sup> Der Vermögensübergang von Todes wegen bewirkt nach dieser Ansicht einen Reinvermögenszuwachs und damit eine Steigerung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Begünstigten, welche wiederum eine Besteuerung rechtfertigt.<sup><a title="" href="#_ftn113" name="_ftnref113">113</a></sup> Die Anhänger dieser Theorie vertreten die Meinung, dass die Zulässigkeit einer Besteuerung von mittels Arbeit erwirtschaftetem Erwerbsvermögen bedeutet, dass dies erst recht für den gegenleistungslosen Einkommenszufluss via Erbschaft gelten muss.<sup><a title="" href="#_ftn114" name="_ftnref114">114</a></sup> Die Leistungsfähigkeitstheorie kann aufgrund ihrer Subjektbezogenheit nur für die Erbschaftssteuer in ihrer Ausgestaltung als Erbanfallsteuer herangezogen werden. Unter den Titeln<em> </em>Argument des Verdienstes<em> </em>und 3.2.2.1 Steuerprogression wird die Leistungsfähigkeitstheorie einer erneuten Betrachtung unterzogen und mit Rawls Position zur Leistungsfähigkeit verglichen.</p><h5>2.3.2.5 Umverteilungstheorie</h5>
<p>Einer anderen Auffassung zufolge bezieht die Erbschaftssteuer ihre Daseinsberechtigung aus ihrer Umverteilungsfunktion. Die Umverteilung wird nicht bloss als Auswirkung einer sachgerecht bemessenen Fiskalsteuer betrachtet, sondern bildet die Legitimationsgrundlage der Erbschaftssteuer per se.<sup><a title="" href="#_ftn115" name="_ftnref115">115</a></sup> Vermögensvererbungen sorgen nach dieser Ansicht für eine Perpetuierung sozialer Ungleichheit. Das «unverdiente Vermögen» durch Erbschaft steht im Widerspruch zu den sozial akzeptierten Ungleichheiten, die sich aus unterschiedlicher Leistung ergeben. Mittels einer Erbschaftssteuer soll makrosozial zur Korrektur dieser Ungleichheit beigetragen werden.<sup><a title="" href="#_ftn116" name="_ftnref116">116</a></sup> Progressive Steuersätze sollen dafür sorgen, dass hohe Erbschaften prozentual stärker belastet werden und eine Vermögensumverteilung respektive -rückverteilung möglich ist.</p>
<p>Der Gedanken der Umverteilung ist in der später zu diskutierenden Gerechtigkeitstheorie von John Rawls zentral und wird im Abschnitt 3.2.1.2 Rechtfertigung von Erbschaftssteuern<em> </em>vertieft behandelt.</p>
<h5>2.3.2.6 Die Erbschaftssteuer als staatliches Miterbrecht</h5>
<p>Schliesslich postuliert ein weiterer Rechtfertigungsansatz, dass es sich bei der Erbschaftssteuer um ein staatliches Miterbrecht handelt.<sup><a title="" href="#_ftn117" name="_ftnref117">117</a></sup> Als Begründung wird die Tatsache herangezogen, dass Aufgaben, die früher vorwiegend vom Familienverband getragen wurden (Erziehung, Unterstützung, usw.), aufgrund der gegenwärtigen, gesellschaftlichen Entwicklung stärker dem Staat obliegen. Die vermehrte Inanspruchnahme öffentlicher Träger rechtfertigt in dieser Argumentationskette die Beschränkung des familiären Erbrechts und erlaubt somit ein staatliches Miterbrecht in Form einer Erbschaftssteuer.<sup><a title="" href="#_ftn118" name="_ftnref118">118</a></sup></p>
<p>Als Einziger der dargestellten Rechtfertigungsversuche vermag dieser Ansatz die Abstufungen der Steuerbelastung innerhalb der verwandtschaftlichen Konstellation zu erklären. Eine niedrigere oder fehlende Besteuerung direkter Nachkommen und Ehegatten resp. eingetragener Partner oder Partnerinnen des Erblassers ist sinnvoll, da damit der enge Familienverband finanziell entlastet wird, so die Argumentation. Dabei muss jedoch in Zweifel gezogen werden, ob die verwandtschaftliche Nähe tatsächlich etwas darüber aussagt, dass der Staat mittels familieninterner Care-Arbeit zu Lebzeiten des Erblassers entlastet wurde.<sup><a title="" href="#_ftn119" name="_ftnref119">119</a></sup></p>
<h4>2.3.3 Würdigung der verschiedenen Rechtfertigungsgrundsätze</h4>
<p>Dieser Abriss verschiedener Rechtfertigungstheorien entspricht dem Versuch, möglichst viele Aspekte der Frage zu beleuchten, warum wir dem Staat das Recht zusprechen sollten, eine Erbschaftssteuer zu erheben und der oben dargelegten Forderung nach ihrer Abschaffung nicht zu folgen ist.</p>
<p>Das Gegenargument des unzulässigen Eingriffs in die Eigentumsfreiheit vermag nicht zu überzeugen. Wie unter 2.2.2. Eigentumsgarantie gezeigt wurde, gilt das Recht auf Eigentumsfreiheit in der Schweiz nicht unbeschränkt. Ein Eingriff ist zulässig, solange er nicht konfiskatorischer Natur ist. Auch der Vorwurf, dass Erbschaftssteuerbefürworter sich in ihrer Argumentation nur von Neid leiten lassen, ist haltlos. Die oben aufgeführten Rechtfertigungsaspekte liefern vernünftige Gründe dafür, warum die Besteuerung von Erbschaften notwendig ist – und dies fern jeglicher Missgunst gegenüber Vermögen oder Wohlstand. Schliesslich ist auch der Vorwurf der Doppelbesteuerung zurückzuweisen. Eine unzulässige Doppelbesteuerung liegt vor, wenn ein Steuersubjekt für das gleiche Steuerobjekt doppelt besteuert wird. Diese Identität ist bei der Erbschaftssteuer nicht gegeben. Belastet wird der Vermögenszugang bei den Erben, welche für dieses Steuerobjekt zuvor noch nie einer Besteuerung unterzogen wurden, und eben gerade nicht beim Erblasser, welcher dafür bereits Einkommens- und/oder Vermögenssteuern bezahlt hat.<sup><a title="" href="#_ftn120" name="_ftnref120">120</a></sup> Hinzu kommt, dass eine Mehrfachbesteuerung des gleichen Vermögensubstrats im Steuerrecht keine Seltenheit darstellt. Jeder von der Einkommenssteuer erfasste Franken unterliegt im Falle seiner Verwertung durch Konsum auch der Mehrwertsteuer. Ausserdem werden angesparte Geldwerte, die ebenfalls bereits einmal der Einkommenssteuer unterlagen, in der Schweiz in regelmässigen Abständen von der Vermögenssteuer erfasst.<sup><a title="" href="#_ftn121" name="_ftnref121">121</a></sup></p>
<p>Obwohl die Argumente der Erbschaftssteuergegner begründet verworfen werden können, vermag keine der hier präsentierten Rechtfertigungstheorien eine abschliessende und befriedigende Erklärung dafür zu liefern, warum die Existenz der Erbschaftssteuer gerechtfertigt ist. In der neueren Literatur ist die Tendenz zu beobachten, dass dem Leistungsfähigkeitsgedanken als Begründungsansatz der Vorrang gegeben wird.<sup><a title="" href="#_ftn122" name="_ftnref122">122</a></sup> Für diese Annahme spricht, dass Erbschaften als faktische Reinvermögenszuflüsse konzeptionell grundsätzlich der Einkommenssteuer unterfallen müssten, diese aber, wie oben bereits dargelegt, in <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1184_1184_1184/de#art_24" target="_blank" rel="noopener">Art. 24 lit. a DBG</a> und <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1256_1256_1256/de#art_7" target="_blank" rel="noopener">Art. 7 Abs. 4 lit. c Steuerharmonisierungsgesetz (StHG)</a> explizit ausgeklammert werden. Ein geschlossenes Steuersystem macht es nach dem Leistungsfähigkeitsgedanken folglich gar notwendig, eine Erbschaftssteuer zu erheben, da es sonst zu hochgradig ungerechten Verzerrungen kommen würde.<sup><a title="" href="#_ftn123" name="_ftnref123">123</a></sup></p>
<p>An dieser Stelle stellt sich die Frage, warum eine gesonderte steuerliche Erfassung der Erbschaftssteuer überhaupt notwendig ist und diese nicht direkt in die Einkommenssteuer integriert wird. Ein wichtiger Unterschied zwischen Einkommen aus Erwerb und «Einkommen» aus Erbschaft ist einerseits, dass der Vermögenserwerb durch Erbschaft nicht am Markt generiert wird. Dies ist insbesondere betreffend dem Leistungsfähigkeitsgedanken bedeutsam.<sup><a title="" href="#_ftn124" name="_ftnref124">124</a></sup> Weiter würde der Einbezug der Erbschaftssteuer in die Einkommenssteuer zu technischen Schwierigkeiten führen: Aufgrund der progressiven Tarife und der Ballung von Einkommen im Zeitpunkt der Erbschaft entstünde eine unangemessene Gesamtbelastung.<sup><a title="" href="#_ftn125" name="_ftnref125">125</a></sup> Vertritt man die Meinung, dass der Staat die Pflicht hat, den Schutz von Ehe und Familie zu gewährleiten, wäre eine separate Erbschaftssteuer mittels Steuerbefreiungen besser geeignet, dieser Pflicht gerecht zu werden.<sup><a title="" href="#_ftn126" name="_ftnref126">126</a></sup> Schliesslich benennt Locher die Wahrung des kantonalen Steuersubstrats als Grund für die Tatsache, dass Erbschaften nicht als Einkommen qualifiziert und damit nicht unter die Einkommenssteuer subsumiert werden.<sup><a title="" href="#_ftn127" name="_ftnref127">127</a></sup></p>
<p>Diese Argumentation vermag zwar einzuleuchten und scheint nach dem Grundsatz der Gleichmässigkeit der Besteuerung auch geboten, jedoch lässt die Aussage «Wenn wir Einkommen besteuern, dann müssen wir auch Erbschaften besteuern» immer noch die Frage offen, warum wir denn überhaupt besteuern. Klar ist, dass Steuereinnahmen generiert werden müssen, um die Finanzierung des öffentlichen Gemeinwesens zu gewährleisten. Das Leistungsfähigkeitsprinzip vermag sodann auch eine unterschiedliche steuerliche Belastung je nach den finanziellen Möglichkeiten des Pflichtigen zu rechtfertigen. Was aber offenbleibt, ist, wie aus der Tatsache, dass jemand leisten kann, eine Pflicht zur Steuerleistung abgeleitet wird. Es entspricht unserem Gerechtigkeitsgefühl, dass jene mehr leisten sollen, die mehr haben. Doch als Grund dafür, warum überhaupt Steuern zu entrichten sind, überzeugt das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht.</p>
<p>Meines Erachtens kann nur eine Synthese der dargestellten Rechtfertigungsansätze eine Erklärung für die Berechtigung des Staates zur Erhebung einer Erbschaftssteuer liefern. Aufgrund der sowohl sozialpolitischen als auch fiskalischen Zweckausrichtung der Erbschaftssteuer überzeugen insbesondere das Rechtfertigungsargument der Umverteilung und das des staatlichen Miterbrechts, im Sinne einer staatlichen Teilnahme am Vermögensübergang von Todes wegen.</p>
<h2>3. Gerechtigkeit</h2>
<p>Nachdem die theoretischen Grundlagen der Erbschaftssteuer gelegt sind und bereits erste kritische Blicke auf ihren verfassungsrechtlichen Rahmen und ihre Rechtfertigung geworfen wurden, soll im folgenden Abschnitt die Frage der Gerechtigkeit der Erbschaftssteuer nach John Rawls behandelt werden. Dazu gilt es in einem ersten Schritt, seine Theorie der Gerechtigkeit zu erläutern.</p>
<h3>3.1 Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit</h3>
<p>In einer Zeit, in der die politische Philosophie schon beinahe als tot galt, erweckte der amerikanische Philosoph John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit die Debatte rund um Ethik und Politik zu neuem Leben. 1971 erschien sein Hauptwerk unter dem Titel A Theory of Justice und stiess eine Diskussion an, die bis heute nicht abgeebbt ist.<sup><a title="" href="#_ftn128" name="_ftnref128">128</a></sup></p>
<p>Rawls gilt als Vertreter eines egalitären Liberalismus. Mit seiner politischen Ideologie vertritt er die Ansicht, dass sich eine gerechte Ordnung vorrangig durch den Grundwert der Gleichheit bestimmt. Das Liberale, also die Freiheit, ist für ihn kein Zweck an sich, sondern ein Mittel zur Herstellung seines Ideals: Der Gerechtigkeit unter Gleichen.</p>
<p>Mit seiner Gerechtigkeitstheorie bietet Rawls eine Alternative zum damals vorherrschenden Utilitarismus. Das utilitaristische Denken beschreibt eine Form der zweckorientierten (teleologischen) Ethik, welche die Richtigkeit einer Handlung allein danach bemisst, welche Folgewirkungen sie hat.<sup><a title="" href="#_ftn129" name="_ftnref129">129</a></sup> Moralisch gut ist nach dem Utilitarismus das, was das Gesamtwohl einer Gesellschaft erhöht. Jeremy Bentham, der Begründer der klassischen utilitaristischen Theorie, bringt dies auf den Punkt mit dem Grundsatz des «grösstmögliches Glück für die grösstmögliche Zahl».<sup><a title="" href="#_ftn130" name="_ftnref130">130</a></sup> Eine Handlung ist moralisch immer dann geboten, wenn ihr Nutzen darin besteht, diesen Zweck zu erreichen.<sup><a title="" href="#_ftn131" name="_ftnref131">131</a></sup></p>
<p>Im Unterschied zum Utilitarismus versteht Rawls das Gerechte nicht als Maximierung des Guten, sondern vertritt die Meinung, dass das Gute und das Gerechte voneinander getrennt zu denken sind.<sup><a title="" href="#_ftn132" name="_ftnref132">132</a></sup> So sei das Gerechte dem Guten voranzustellen. Etwas kann nur dann gut sein, wenn es den Grundsätzen des Gerechten folgt.<sup><a title="" href="#_ftn133" name="_ftnref133">133</a></sup> Des Weiteren rückt Rawls im Gegensatz zum Utilitarismus – dessen Kerninteresse in der Nutzensumme der gesamten Gesellschaft liegt – das Individuum ins Zentrum der Betrachtung. Für seine Vorstellung der Gerechtigkeit ist es zentral, wie die Summe der gesamtgesellschaftlichen Befriedigung auf die Individuen verteilt ist. Ein Aspekt, welcher vom Utilitarismus gänzlich unbeachtet bleibt.<sup><a title="" href="#_ftn134" name="_ftnref134">134</a></sup></p>
<h4>3.1.1 Gerechtigkeit als Fairness (Verfahrensgerechtigkeit)</h4>
<p>Einer der zentralen Gedanken in John Rawls Theorie der Gerechtigkeit<em> </em>ist sein Verständnis von Gerechtigkeit als Fairness.</p>
<p>Im Gegensatz zu einer natürlichen Ordnung ist eine konstruierte Gesellschaft (wie die in der wir leben) rechtfertigungsbedürftig. Unsere Gesetze, Institutionen und Verteilungssysteme haben das Potential, massiv in unsere persönliche Freiheit einzugreifen und erfordern demnach eine Legitimation. Wo früher Gott oder die «natürliche Weltordnung» als Rechtfertigung des Gesellschaftssystems herangezogen wurden, scheint dies heute nicht mehr zu überzeugen.<sup><a title="" href="#_ftn135" name="_ftnref135">135</a></sup> John Rawls vertritt die Auffassung, dass sich die Legitimation einer Gesellschaftsordnung einzig aus der Zustimmung der in ihr lebenden Individuen ergeben kann.<sup><a title="" href="#_ftn136" name="_ftnref136">136</a></sup></p>
<p>Mit dieser Ansicht reiht sich Rawls in die lange Tradition der Gesellschaftsverträge ein.<sup><a title="" href="#_ftn137" name="_ftnref137">137</a></sup> Die sogenannten Kontraktualisten beurteilen die Rechtmässigkeit einer Ordnung danach, ob sie mittels einer freien und fairen Übereinkunft aller Beteiligten zustande kam. Im Unterschied zu seinen Vordenkern bedient sich Rawls dem Konzept der Vertragstheorie aber nicht zur Legitimation einer gesellschaftlichen Ordnung an sich, sondern verfolgt das Ziel, mit dieser auf Selbstbestimmung und Gleichberechtigung basierenden Vertragssituation Prinzipien für ein gerechtes Zusammenleben zu rechtfertigen.</p>
<p>Gerecht sind nach Rawls also genau diejenigen Grundsätze, auf welche man sich in einem fairen Verfahren einigen würde.<sup><a title="" href="#_ftn138" name="_ftnref138">138</a></sup> Wie dieses faire Verfahren seiner Auffassung nach aussieht, wird im nächsten Abschnitt behandelt.</p>
<h4>3.1.2 Schleier des Nichtwissens</h4>
<p>Wenn wir als Gesellschaft gerechte Regeln für ein faires Zusammenleben festlegen, dann tun wir das immer in einem bereits bestehenden System.<sup><a title="" href="#_ftn139" name="_ftnref139">139</a></sup> Die Güter sind verteilt, die gesellschaftlichen Strukturen sind vorhanden und die sozialen Positionen sind vergeben. Dworkin hat diesen Zustand verglichen mit einem Kartenspiel, bei dem man versucht die Regeln festzulegen, nachdem die Karten bereits verteilt worden sind.<sup><a title="" href="#_ftn140" name="_ftnref140">140</a></sup> In einer solchen Situation scheint es beinahe unmöglich zu sein – selbst wenn Mehrheiten gefunden werden – gerechte «Spielregeln» aufzustellen. Der Umgang mit dieser Problematik könnte folglich darin bestehen, sich vorzustellen, auf was man sich geeinigt hätte, als man die Karten noch nicht auf der Hand hatte. Dies versucht Rawls mit dem hypothetischen Gedankenexperiment des Urzustands zu veranschaulichen.</p>
<p>John Rawls konstruiert einen fiktiven Zustand, den sogenannten Urzustand (original position), in dem die Menschen zusammenkommen, um Prinzipien für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft festzulegen. Der Clou dabei: Die Menschen wissen nicht, welche Stellung sie in der zu gestaltenden Gesellschaft innehaben werden. Sie kennen weder ihren sozialen noch ihren ökonomischen Status. Auch ihre persönlichen Fähigkeiten wie Intelligenz, Talent oder physischer Kraft sowie die eigene Risikobereitschaft und grundsätzliche Lebenseinstellung kennen sie nicht.<sup><a title="" href="#_ftn141" name="_ftnref141">141</a></sup> John Rawls beschreibt diesen Zustand als «Schleier des Nichtwissens» (veil of ignorance).<sup><a title="" href="#_ftn142" name="_ftnref142">142</a></sup></p>
<p>Um angesichts dieser Umstände in der Lage zu sein, im Diskurs gerechte Grundsätze für ein gesellschaftliches Zusammenleben zu definieren, erachtet es Rawls als notwendig, dass die Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens rational denkende und handelnde Wesen sind.<sup><a title="" href="#_ftn143" name="_ftnref143">143</a></sup> Ein Grundverständnis von politischen Zusammenhängen, gesellschaftlichen Strukturen und den Gesetzen der menschlichen Psychologie setzt Rawls ebenfalls voraus.<sup><a title="" href="#_ftn144" name="_ftnref144">144</a></sup></p>
<p>Rawls geht weiter davon aus, dass die Menschen im Urzustand keine aufeinander oder gegeneinander gerichtete Interessen haben. Das wechselseitige Desinteresse verhindert, dass Entscheidungen getroffen werden, die durch Neid oder Missgunst verfälscht sind.<sup><a title="" href="#_ftn145" name="_ftnref145">145</a></sup> Trotz der fehlenden Interessensreziprozität spricht Rawls den Menschen im Urzustand ein moralisches Vermögen zu, welches sie befähigt, Gerechtes von Ungerechtem zu unterscheiden.<sup><a title="" href="#_ftn146" name="_ftnref146">146</a></sup></p>
<p>Zweck des Schleier des Nichtwissens ist es folglich, einen Zustand zu schaffen, in dem die Menschen unbeeinflusst von jeglichem Eigennutzen gerechte Entscheidungen für die Gemeinschaft treffen können. Aus der so konstruierten abstrakten Gleichheit der Menschen im Urzustand folgt eine vollkommene Unparteilichkeit.<sup><a title="" href="#_ftn147" name="_ftnref147">147</a></sup></p>
<p>Die Idee ist simpel: Wer Verfassungsprinzipien auswählt, dabei allerdings nicht weiss, welche Stellung er in der aufzubauenden Gesellschaft innehaben wird, wer also keine Möglichkeit hat, festzustellen, was für ihn selbst am vorteilhaftesten wäre, dem bleiben bei seiner Wahl nur jene Gesichtspunkte übrig, die allen Gesellschaftsteilnehmern Vorteile bieten. Denn nur das, was für die Allgemeinheit dienlich ist, wird mit Sicherheit auch ihm selbst dienlich sein. Sobald Privilegien für bestimmte Gruppen geschaffen werden, besteht immer die Gefahr, in der erschaffenen Gesellschaft nicht zur privilegierten Gruppe zu gehören, sondern zu der Benachteiligten. Ein rationaler Mensch kann das nicht wollen, so Rawls.<sup><a title="" href="#_ftn148" name="_ftnref148">148</a></sup></p>
<p>Die Ausgangssituation im Urzustand darf gleichwohl nicht als historische Gegebenheit missverstanden werden.<sup><a title="" href="#_ftn149" name="_ftnref149">149</a></sup> Das Ziel ist es, eine theoretische Entscheidungssituation zu konstruieren, in die man sich gedanklich hineinversetzen kann, um zu prüfen, ob eine bestimmte Pflicht oder Regel im Urzustand gewählt worden wäre.<sup><a title="" href="#_ftn150" name="_ftnref150">150</a></sup></p>
<h4>3.1.3 Gerechtigkeitsgrundsätze</h4>
<p>Doch auf welche Gerechtigkeitsgrundsätze würden sich die Menschen im Urzustand denn tatsächlich einigen? Rawls unterbreitet als Resultat seiner theoretischen Erwägungen die folgenden zwei Prinzipien:</p>
<ol style="list-style-type: upper-roman;">
<li>Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.</li>
<li>Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermassen beschaffen sein: <br />(a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes, den am wenigsten Begünstigten den grösstmöglichen Vorteil bringen, und <br />(b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäss fairer Chancengleichheit offenstehen.<sup><a title="" href="#_ftn151" name="_ftnref151">151</a></sup></li>
</ol>
<p>Bei genauer Betrachtung werden an dieser Stelle sogar drei Prinzipien formuliert.<sup><a title="" href="#_ftn152" name="_ftnref152">152</a></sup> Grundsatz I. formuliert das Prinzip der gleichen Grundrechte und Grundfreiheiten. Grundsatz II. formuliert zum einen das Prinzip zur Rechtfertigung von Ungleichheiten (Differenzprinzip) und zum anderen das Prinzip fairer Chancengleichheit. Um bei der Terminologie von Rawls zu bleiben, wird in der Folge jedoch weiterhin von zwei Gerechtigkeitsgrundsätzen die Rede sein.</p>
<p>Mit der Formulierung obiger Grundsätze teilt Rawls seine Vorstellung der Gerechtigkeit in zwei Teile.<sup><a title="" href="#_ftn153" name="_ftnref153">153</a></sup> Grundsatz I fokussiert in seiner Anwendung auf das politisch rechtliche System der Gesellschaft und fordert ein egalitaristisches Verteilungsprinzip für immaterielle Güter. Grundsatz II dagegen hat das sozioökonomische System einer Gesellschaft zum Thema und bewirkt in seiner Anwendung ein nicht egalitäres Verteilungsprinzip für materielle Grundgüter.<sup><a title="" href="#_ftn154" name="_ftnref154">154</a></sup></p>
<p>Nach Rawls’ Vorstellung ist der erste Gerechtigkeitsgrundsatz dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz gegenüber zu priorisieren. Eine Verletzung der individualrechtlichen Freiheitsordnung kann nicht durch sozioökonomische Vorteile gerechtfertigt oder ausgeglichen werden. Diese Vorrangregel gilt absolut.<sup><a title="" href="#_ftn155" name="_ftnref155">155</a></sup></p>
<p>Nachfolgend soll vertieft auf den Gehalt der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze eingegangen werden.</p>
<h5>3.1.3.1 Zum ersten Grundsatz</h5>
<p>Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz betrifft die Freiheit und verlangt zweierlei: Eine umfassende Gleichverteilung der Grundfreiheiten und die Maximierung dieser individuellen Freiheiten für alle. Rawls’ Theorie beinhaltet diesbezüglich eine abschliessende Liste. Zu gewährleisten sind die politische Freiheit (aktives und passives Wahlrecht), die Rede- und Versammlungsfreiheit, die Gewissens- und Gedankenfreiheit, die Persönliche Freiheit (Unverletzlichkeit der Person), das Recht auf persönliches Eigentum und der Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft.<sup><a title="" href="#_ftn156" name="_ftnref156">156</a></sup></p>
<p>Es scheint für Rawls evident, dass sich ein rationaler Mensch in einer Situation der Unkenntnis (wie im Urzustand) einzig und allein für eine Gleichverteilung von Freiheiten aussprechen würde. Man stelle sich vor, man müsse einen Kuchen in mehrere Stücke zerteilen, von denen man nicht weiss, welches davon man bekommen wird. Unter der Annahme, dass jedermann lieber ein grösseres als ein kleineres Stück des Kuchens für sich hätte, wäre es die vernünftigste Wahl den Kuchen vorsorglich in gleich grosse Stücke zu schneiden.<sup><a title="" href="#_ftn157" name="_ftnref157">157</a></sup> Eine Ungleichverteilung wäre hingegen stets mit dem Risiko verbunden, in die schlechtere Position zu geraten. Diese Risikobereitschaft spricht Rawls den Menschen im Urzustand ab.<sup><a title="" href="#_ftn158" name="_ftnref158">158</a></sup></p>
<p>Doch die allgemeine Gewährleistung der Grundfreiheiten reicht für eine gerechte Grundordnung nach Rawls’ Vorstellung nicht aus. Neben der egalitären Verteilung bedarf es einer Gesellschaftsausgestaltung, die darauf ausgerichtet ist, die individuellen Freiheiten für alle zu maximieren. Verletzt wird der erste Gerechtigkeitsgrundsatz folglich einerseits durch Privilegien, Diskriminierungen und Asymmetrien zwischen Rechten und Pflichten der Beteiligten, zum anderen aber auch durch Freiheitsbeschränkungen, die jedermann betreffen.<sup><a title="" href="#_ftn159" name="_ftnref159">159</a></sup></p>
<p>Die Grundfreiheiten geniessen keinen absoluten Schutz. Sie können immer dann eingeschränkt werden, wenn sie untereinander in Konflikt geraten. Unabhängig davon, wie das System der Grundfreiheiten ausgestaltet wird: Es muss für alle identisch sein.<sup><a title="" href="#_ftn160" name="_ftnref160">160</a></sup></p>
<h5>3.1.3.2 Zum zweiten Grundsatz</h5>
<p>Der erste Teil (a) von Rawls zweitem Gerechtigkeitsgrundsatz beschäftigt sich mit der Verteilung von Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft. Grundsätzlich ist auch hier eine gleichmässige Distribution anzustreben, es sei denn, eine ungleiche Verteilung brächte für jedermann Vorteile.<sup><a title="" href="#_ftn161" name="_ftnref161">161</a></sup></p>
<p>Dieses sogenanntes Differenzprinzip bedarf der Erläuterung: Mit der Überlegung, dass ökonomische Ungleichheiten unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt sein können, versucht Rawls der menschlichen Natur Rechnung zu tragen. Im Gegensatz zu den Grundfreiheiten sind die materiellen Grundgüter einer Gesellschaft vermehrbar. Würde Einkommen und Vermögen bedingungslos egalitär verteilt werden, gäbe es keinen Anreiz für den Einzelnen, zum wirtschaftlichen Gesamtprodukt beizutragen. Entlöhnt man jedoch nach Leistung und schafft mittels Privilegien Motivation dafür, die eigene Produktivität und das eigene Talent auszuschöpfen, schafft man eine Gesellschaft, deren Sozialprodukt grösser ist, als es wäre, wenn diese Leistungsanreize nicht bestünden. Erstrebenswert ist dies nach Rawls dann, wenn alle am Zugewinn partizipieren.<sup><a title="" href="#_ftn162" name="_ftnref162">162</a></sup> Um erneut das Kuchenbeispiel zu bedienen: Wenn selbst das kleinste Kuchenstück grösser ist als das gleich grosse Kuchenstück einer auf Gleichverteilung bestehenden Gesellschaftsstruktur, haben alle etwas davon.<sup><a title="" href="#_ftn163" name="_ftnref163">163</a></sup></p>
<p>Das Differenzprinzip kann als Kriterium herangezogen werden, um gerechte von ungerechten Ungleichverteilungen zu unterscheiden. Geprüft werden muss stets, ob und in welchem Mass eine nicht egalitäre Distribution für eine gerechte Gesellschaft notwendig ist. Dabei ist der Grundsatz «So gleich wie möglich, so ungleich wie nötig» einzuhalten.<sup><a title="" href="#_ftn164" name="_ftnref164">164</a></sup> Ungleichheiten sind nach diesem Verständnis also genau so lange gerecht, wie sie zu einer Produktivitätssteigerung führen, die allen Teilnehmern der Gesellschaft dient. Übersteigt die Gleichheitsabweichung das Mass der ökonomischen Notwendigkeit, fordert das Differenzprinzip eine Ungleichheitsminimierung. Nach Rawls ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, dass der Staat mittels Umverteilung in eine Gesellschaft eingreift, deren Ungleichverteilung mit dem Differenzprinzip nicht mehr gerechtfertigt werden kann.<sup><a title="" href="#_ftn165" name="_ftnref165">165</a></sup> Ein solcher Eingriff ist notwendig, um die Grundfreiheiten gemäss Gerechtigkeitsgrundsatz I zu wahren, welche gemäss Vorrangregelung absolute Priorität haben. </p>
<p>Insbesondere hinsichtlich des in dieser Arbeit zentralen Themas der Erbschaftssteuer ist bemerkenswert, dass Rawls sich auch mit der intergenerationellen Verteilungsgerechtigkeit beschäftigt hat. Unter Berücksichtigung eines gerechten Spargrundsatzes sollen bei der Anwendung des Differenzprinzips auch die nachkommenden Generationen berücksichtigt werden. Nach Rawls ist es die Pflicht einer jeder Generation, eine angemessene Kapitalakkumulation für die nächste Generation zu betreiben.<sup><a title="" href="#_ftn166" name="_ftnref166">166</a></sup></p>
<p>Der zweite Teilsatz (b) von Rawls zweitem Gerechtigkeitsgrundsatz fordert, dass öffentliche Ämter und Positionen im Sinne einer fairen Chancengleichheit allen offenstehen. Menschen sollen ungeachtet ihrer sozialen Herkunft, ihrer Talente und ihrer Fähigkeiten dieselbe Möglichkeit zum gesellschaftlichen Aufstieg haben.<sup><a title="" href="#_ftn167" name="_ftnref167">167</a></sup> Das Prinzip der fairen Chancengleichheit fordert eine Gesellschaft, deren Institutionen es auch den am schlechtesten Gestellten ermöglicht, ihr Potential auszuschöpfen und sich bestmöglich zu entwickeln.<sup><a title="" href="#_ftn168" name="_ftnref168">168</a></sup></p>
<p>Auch innerhalb von Gerechtigkeitsgrundsatz II stellt Rawls eine Vorrangregelung auf und misst der fairen Chancengleichheit im Gegensatz zur materiellen Verteilungsgerechtigkeit ein grösseres Gewicht bei. Demnach ist es nicht erlaubt, die Chancengleichheit einzuschränken, um die Wirkung des Differenzprinzips zu verstärken.<sup><a title="" href="#_ftn169" name="_ftnref169">169</a></sup></p>
<h3>3.2 Anwendung von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie auf die schweizerische Erbschaftssteuer</h3>
<p>Im nachfolgenden Abschnitt soll untersucht werden, ob die Erhebung einer Erbschaftssteuer an sich – und ihre derzeitige Ausgestaltung in der Schweiz – mit dem Gerechtigkeitsverständnis von John Rawls vereinbar ist.</p>
<h4>3.2.1 Rechtfertigung der Erbschaftssteuer nach John Rawls</h4>
<p>In einem ersten Teil wende ich mich der Frage zu, ob die Besteuerung von Erbschaften gemäss John Rawls Theorie grundsätzlich rechtfertigbar ist. Würden sich die Menschen im Urzustand für oder gegen die Erhebung einer Erbschaftssteuer aussprechen?</p>
<h5>3.2.1.1 Rechtfertigung von Erbschaften</h5>
<p>Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, bedarf es der Rückbesinnung in der Argumentation. Bevor sich eine Aussage darüber treffen lässt, ob in einer gerechten Gesellschaft Erbschaften besteuert werden sollten, muss die Frage beantwortet werden, ob Erben und Vererben an sich zulässige und gerechte Formen der Vermögensübertragung sind.<sup><a title="" href="#_ftn170" name="_ftnref170">170</a></sup></p>
<p>Für eine Rechtsordnung, die den Erblasser ermächtigt, sein Vermögen via Erbschaft zu übertragen und den Erben das Recht einräumt, auf diese Weise die ihnen zugedachten Besitztümer zu erwerben, scheint nach Rawls zunächst das Recht auf persönliches Eigentum zu sprechen. Die Eigentumsfreiheit zählt Rawls gemäss seinem ersten Gerechtigkeitsprinzip zu den Grundfreiheiten, die allen in gleicher Weise zustehen.<sup><a title="" href="#_ftn171" name="_ftnref171">171</a></sup> Das Recht auf persönliches Eigentum ist aber nicht allein um seiner selbst willen schützenswert, sondern beinhaltet nach Rawls Gerechtigkeitstheorie zusätzlich eine konstitutive Wirkung für alle anderen Grundfreiheiten. Wer stets um sein Eigentum fürchten muss und zu jedem Zeitpunkt mit der Gefahr konfrontiert ist, dass ihm etwas weggenommen wird, kann nicht vollkommen frei sein.</p>
<p>In der schweizerischen Rechtsordnung schützt das Recht auf persönliches Eigentum die Verfügungsmacht über Besitz und Nutzung der eigenen Vermögenswerte.<sup><a title="" href="#_ftn172" name="_ftnref172">172</a></sup> Dabei ist nicht nur das Eigentum im Sinne von <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/24/233_245_233/de#book_4/part_1" target="_blank" rel="noopener">Art. 641 ff. Zivilgesetzbuch (ZGB)</a> gemeint, sondern auch vermögenswerte Privatrechte wie beispielsweise erbrechtliche Ansprüche. Damit gehört das Recht zu erben und zu vererben zum Gewährleistungsbereich der Eigentumsgarantie.<sup><a title="" href="#_ftn173" name="_ftnref173">173</a></sup> Ob auch Rawls ein Bestimmungsrecht über die persönlichen Vermögenswerte nach dem eigenen Ableben unter den Schutzbereich der Eigentumsfreiheit subsumiert, geht aus seiner Theorie der Gerechtigkeit nicht hervor. Ein Recht zu Vererben kann aus Gerechtigkeitsprinzip I jedenfalls nicht abgeleitet werden.</p>
<p>Überzeugender als das Argument der Eigentumsfreiheit scheint daher Rawls Vorstellung, dass die<em> </em>Möglichkeit, sein erwirtschaftetes Vermögen an die nächste Generation weiterzugeben, relevante Anreize schaffen kann. Sei das Ziel die Absicherung der eigenen Familie, die Gründung einer Stiftung oder die Weitergabe an Dritte: Die Möglichkeit zu Vererben motiviert einen Erblasser, das eigene Vermögen zu vermehren und zu bewahren, was zur ökonomischen Effizienz einer Gesellschaft beiträgt.<sup><a title="" href="#_ftn174" name="_ftnref174">174</a></sup> Die Aussicht auf einen subjektiven Vorteil steigert die Produktivität des Einzelnen, was zu einem grösseren Gesamtprodukt führt, von dem wiederum alle profitieren können. Sofern jeder am dadurch generierten Zugewinn partizipieren kann, sind derartige Leistungsanreize gemäss dem Differenzprinzip nicht nur gerechtfertigt sondern auch erstrebenswert.<sup><a title="" href="#_ftn175" name="_ftnref175">175</a></sup></p>
<p>Als dritter Rechtfertigungsgrund für eine Erbrechtsordnung ist der von Rawls begründete und oben erwähnte gerechte Spargrundsatz zu nennen.<sup><a title="" href="#_ftn176" name="_ftnref176">176</a></sup> Mit dem gerechten Spargrundsatz nimmt sich Rawls dem Generationengerechtigkeitsproblem an und fordert, dass jeder Generation die Pflicht zukommt, eine angemessene Kapitalakkumulation zu betreiben – also um der nächsten Generation willen zu sparen.<sup><a title="" href="#_ftn177" name="_ftnref177">177</a></sup> Im Urzustand hat man keine Kenntnisse darüber, in welche Generation man geboren wird. Man weiss nicht, ob man in einer Zeit lebt, in der die Wirtschaft floriert oder ob gerade eine Epoche anbricht, in der die Abhängigkeit von den bestehenden Infrastrukturen und Vermögensbeständen gross ist. Aus diesem Grund würde man sich für eine Regelung entscheiden, die jede Generation verpflichtet, sorgsam und haushälterisch mit dem eigenen Vermögen umzugehen.<sup><a title="" href="#_ftn178" name="_ftnref178">178</a></sup> Der Zweck der so generierten Ersparnisse ist es, die nachfolgenden Generation mit einer materiellen Grundlage auszustatten.<sup><a title="" href="#_ftn179" name="_ftnref179">179</a></sup> Der intergenerationelle Transfer von Vermögen – und insbesondere das Erbrecht – ist nach diesem Verständnis also notwendig, um zum Fortbestehen einer gerechten Gesellschaft beizutragen.</p>
<h5>3.2.1.2 Rechtfertigung von Erbschaftssteuern</h5>
<p>Wenn man sich im Urzustand gemäss den oben präsentierten Argumenten auf eine Gesellschaftsordnung einigt, welche die Institution des Erbrechts befürwortet, heisst das noch nicht, dass das Recht auf das eigene Erbe unbeschränkt bestehen soll.<sup><a title="" href="#_ftn180" name="_ftnref180">180</a></sup> Es stellt sich bezogen auf eine gerechte Gesellschaftsausgestaltung die Frage, ob nicht die Besteuerung von Erbschaften ein geeignetes Mittel darstellen könnte, um der Erbrechtsordnung Schranken zu setzen, welche zu einer gerechteren Vermögensverteilung beitragen.</p>
<p>Nach Rawls sprechen mehrere Gründe dafür, die Vererbung von Vermögen nur bis zu einem gewissen Umfang zuzulassen und den staatlichen Eingriff der Besteuerung dafür zu nutzen, das Ziel einer gerechten Güterverteilung zu erreichen. Aus seiner Theorie der Gerechtigkeit können drei Argumente abgeleitet werden, die für die Erhebung einer Erbschaftssteuer sprechen.</p>
<p>Im nachfolgenden Abschnitt wird die im Kapitel 2.3. Rechtfertigung der Erbschaftssteuer behandelte Thematik erneut aufgegriffen und aus dem Blickwinkel des Gerechtigkeitsverständnisses von Rawls ein zweites Mal beleuchtet.</p>
<h6>3.2.1.2.1 Argument der Umverteilung</h6>
<p>Das gewichtigste Argument für eine Erbschaftssteuer nach der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls liegt in ihrem möglichen Zweck: Der Umverteilung von Vermögen. Gemäss dem Differenzprinzip ist die Besteuerung von Erbschaften gerechtfertigt, weil sie ein geeignetes Mittel darstellt, um eine Gesellschaft wieder in einen Zustand der gerechten Verteilung zurückzubringen, nachdem sie das gerechte Mass an Ungleichheit überschritten hat.<sup><a title="" href="#_ftn181" name="_ftnref181">181</a></sup> Sie dient als Instrument, um soziale Gerechtigkeit herzustellen, indem sie spezifisch gegen die ungleiche Verteilung von Vermögen und die damit einhergehende Vermögenskonzentration eingesetzt werden kann.<sup><a title="" href="#_ftn182" name="_ftnref182">182</a></sup> Als Mittel zur Korrektur ungerechter Marktergebnisse vermag die Besteuerung von Erbschaften eine daraus resultierende Anhäufung von Vermögen zu unterbinden.<sup><a title="" href="#_ftn183" name="_ftnref183">183</a></sup></p>
<p>Es wurde in Abschnitt 3.1.3 Gerechtigkeitsgrundsätze darauf eingegangen, dass es nach John Rawls’ Vorstellung Gründe gibt, welche eine nichtegalitäre Vermögensverteilung rechtfertigen.<sup><a title="" href="#_ftn184" name="_ftnref184">184</a></sup> So kann es zulässig sein, dass eine Einzelperson über die Möglichkeit verfügt, ihr eigenes Geschäft aufzubauen und es zu vererben, sofern dies, sei es zum Beispiel durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, auch den Schlechtestgestellten einer Gesellschaft zugutekommt. Ist das aber nicht der Fall und der Geschäftsinhaber alleiniger Profiteur seines Vermögens, ist dieser Zustand nach dem Verständnis von Rawls als ungerecht zu bewerten. Das heisst: Immer wenn die wohlhabendsten und vermögendsten Personen einer Gesellschaft über eine Menge an Gütern verfügen, welche über der längerfristig allen Gesellschaftsmitglieder Vorteil bringenden Menge liegt, bedarf es einer Korrektur dieser Verhältnisse. Genau das ist es, was die Erbschaftssteuer zu leisten vermag und weswegen sie als gerechtfertigt zu gelten hat.</p>
<p>Wie bereits unter 3.1.3.2. Zum zweiten Grundsatz erläutert wurde, liegt es nach der Auffassung von John Rawls im Pflichtenbereich des Staats, für eine gerechte Güterverteilung zu sorgen. Rawls macht dazu in seiner Theorie der Gerechtigkeit den Vorschlag, eine Verteilungsabteilung zu errichten, deren Zweck es ist, mittels Besteuerung und Änderung des Besitzrechtes die Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft herzustellen. In diesem Kontext nennt Rawls explizit die Besteuerung von Erbschaften als probates Mittel zur Herstellung solcher gerechter Verteilungsstrukturen.<sup><a title="" href="#_ftn185" name="_ftnref185">185</a></sup></p>
<p>Nach Rawls’ Gerechtigkeitsvorstellung hat die Verteilungsabteilung als gesellschaftliche Rahmeninstitution im Bereich der Erbschaftssteuer zwei Aufgaben:</p>
<p>Zum einen soll sie durch die Besteuerung von Erbschaften dafür sorgen, dass die Verteilung von Vermögen allmählich und stetig berichtigt wird.<sup><a title="" href="#_ftn186" name="_ftnref186">186</a></sup> Ziel ist es, die durch Erbschaften entstehenden Vermögenskonzentrationen zu verhindern und eine weite Streuung des Eigentums zu begünstigen, um damit Machtballungen zu vermeiden. Es ist eine Tatsache, dass mit viel Kapital grosse Macht einhergeht.<sup><a title="" href="#_ftn187" name="_ftnref187">187</a></sup> Personen, die über ein grosses Vermögen verfügen, haben die Möglichkeit über Parteispenden (respektive der Unterstützung einzelner Kampagnen) die politische Meinungsfindung zu beeinflussen, was für die Demokratie und die politische Grundfreiheit eine grosse Gefahr darstellen kann.<sup><a title="" href="#_ftn188" name="_ftnref188">188</a></sup> Daneben sind auch die Medien nicht frei von finanzieller Beeinflussung und dortiger Machtmissbrauch durch Vermögende muss unterbunden werden, um die Meinungsfreiheit zu gewährleisten. Auch mit Spenden an kulturelle oder soziale Institutionen, die nach Rawls grundsätzlich zu befürworten sind, verschaffen sich «die Reichen» Einfluss und können eine Gesellschaftsordnung gemäss ihren Vorstellungen verändern.<sup><a title="" href="#_ftn189" name="_ftnref189">189</a></sup></p>
<p>Die Erbschaftssteuer kann je nach Ausgestaltung als Mittel zur Reduzierung solcher Machtballungen und den damit einhergehenden Gefahren genutzt werden.<sup><a title="" href="#_ftn190" name="_ftnref190">190</a></sup> Die durch sie bewirkte Veränderung des Besitzesrecht ermöglicht die Herstellung einer gerechteren und egalitäreren Verteilung. Nur so kann gemäss Rawls gewährleistet werden, dass jedem Menschen, die in Gerechtigkeits-grundsatz I genannten Grundfreiheiten uneingeschränkt zukommen und niemand benachteiligt oder diskriminiert wird.<sup><a title="" href="#_ftn191" name="_ftnref191">191</a></sup></p>
<p>Die zweite Aufgabe der Verteilungsabteilung besteht nach Rawls darin, durch Steuereinnahmen den Finanzhaushalt des Staates aufzubessern und ihm Mittel zuzuführen, mit denen er eine Umverteilung im Sinne des Differenzprinzips vornehmen kann.<sup><a title="" href="#_ftn192" name="_ftnref192">192</a></sup> Damit ist gemeint, dass die mittels Erbschaftssteuer generierten Einnahmen so rückverteilt werden sollen, dass sie allen, insbesondere aber den in einer Gesellschaft Schlechtestgestellten zugutekommen und beispielsweise in soziale Institutionen oder Bildungsprojekte investiert werden.</p>
<p>Die Erhebung einer Erbschaftssteuer allein vermag den hier als Legitimationsgrund herangezogenen Zweck der Umverteilung nicht zu erfüllen.<sup><a title="" href="#_ftn193" name="_ftnref193">193</a></sup> Ohne sinnvolle Zweckbindung der dem Staat zufliessenden Einnahmen kommt es zu keiner Verteilungsgerechtigkeit im Sinne des Differenzprinzips. Wenn nicht garantiert werden kann, dass die Besteuerung der Erbenden zu einer Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Situation führt, ist die Forderung nach einer Erbschaftssteuer mit dem Ziel der Umverteilung gegenstandslos.<sup><a title="" href="#_ftn194" name="_ftnref194">194</a></sup></p>
<p>Gegen eine solche Zweckbindung spricht das Non-Affektationsprinzip, wonach Steuereinnahmen grundsätzlich für die Deckung sämtlicher Staatsaufgaben eingesetzt werden müssen.<sup><a title="" href="#_ftn195" name="_ftnref195">195</a></sup> Eine zweckgebundene Steuer, wie sie von Rawls gefordert wird, wäre nach diesem Grundsatz unzulässig. Doch von dieser einst vorherrschenden Abneigung gegenüber Zweckrelationen von Steuern ist man in der Schweiz abgewichen. Heute werden in verschiedenen Bereichen die Steuererträge ganz oder teilweise für spezifische Staatsaufgaben reserviert und damit zweckgebunden verwendet.<sup><a title="" href="#_ftn196" name="_ftnref196">196</a></sup> Um ein Beispiele zu nennen, sei hier auf die Tabak- und Alkoholsteuern hinzuweisen, deren Einnahmen zu einem grossen Teil für die Finanzierung der AHV und IV verwendet werden.</p>
<p>Eine Zweckbindung der Erbschaftssteuer wäre demnach im Schweizerischen Steuersystem grundsätzlich denkbar.<sup><a title="" href="#_ftn197" name="_ftnref197">197</a></sup> Ein erfolglos gebliebener Versuch in diese Richtung war die bereits erwähnte Erbschaftssteuerinitiative aus dem Jahr 2015. Die Initianten forderten, dass der Ertrag der Steuer zu zwei Dritteln an den Ausgleichsfonds der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) geht. Aus der bundesrätlichen Botschaft zur Volksinitiative geht dabei hervor, dass die Zweckbindung der Erbschaftssteuer grundsätzlich als zulässig erachtet wurde.<sup><a title="" href="#_ftn198" name="_ftnref198">198</a></sup></p>
<p>Über die genaue Zweckwidmung der Erbschaftssteuer trifft Rawls selbst keine Aussage. Für ihn ist die konkrete Ausgestaltung einer Steuer Aufgabe der Politik und nicht der Philosophie. Es ist jedoch anzunehmen, dass nach seinem Gerechtigkeitsverständnis all jene Rückflüsse zu befürworten sind, welche ein Mehr an Freiheit und Chancengleichheit bewirken, was mich zum nächsten Argument führt.</p><h6>3.2.1.2.2 Argument der Chancengleichheit</h6>
<p>John Rawls vertritt, wie oben bereits erläutert, den liberalen Grundsatz der fairen Chancengleichheit. Die Bedeutung dieses Prinzips ist in seiner Theorie der Gerechtigkeit derart zentral, dass es Eingang in den zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz gefunden hat und gegenüber dem Differenzprinzip zu priorisieren ist.</p>
<p>Rawls unterscheidet zwischen einer fairen und einer formalen Chancengleichheit.<sup><a title="" href="#_ftn199" name="_ftnref199">199</a></sup> Letztere ist immer dann gegeben, wenn jeder Person das gleiche gesetzliche Recht zukommt, durch eigene Leistung vorteilhafte soziale Positionen zu erreichen.<sup><a title="" href="#_ftn200" name="_ftnref200">200</a></sup> Allein das gesetzliche Recht auf eine bestimmte Stellung oder ein bestimmtes Amt bewirkt jedoch noch keine tatsächliche Chancengleichheit. Kinder wohlhabender und privilegierter Familien haben in der Realität – trotz Bildungszugang für alle – deutlich bessere Chancen auf gute Ausbildungsplätze, was ihnen wiederum Vorteile auf dem Arbeitsmarkt und somit die bessere gesellschaftliche Stellung verschafft. Eine rein formale Chancengleichheit reicht also nicht, um einen gerechten Gesellschaftszustand zu erreichen. Die von Rawls geforderte faire Chancengleichheit verlangt deswegen zusätzlich, dass Positionen zwar auch formal, vor allem aber auf eine faire Art und Weise für alle zugänglich sind. Gefordert wird, dass Personen mit ähnlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht nur theoretisch, sondern tatsächlich vergleichbare Erfolgschancen im Leben haben sollen.<sup><a title="" href="#_ftn201" name="_ftnref201">201</a></sup> Die – nach Rawls unverdiente – gesellschaftliche Startposition darf nach dem Prinzip der fairen Chancengleichheit keine Rolle spielen bei der Besetzung von Ämtern und Positionen.<sup><a title="" href="#_ftn202" name="_ftnref202">202</a></sup></p>
<p>Betrachtet man das Erbschaftsrecht in Verbindung mit dem Erbschaftssteuerrecht, ist festzustellen, dass Erbschaften das Potential haben, zu ungleichen Startchancen in einer Gesellschaft zu führen.<sup><a title="" href="#_ftn203" name="_ftnref203">203</a></sup> Insbesondere aus der Vererbung grosser Vermögen resultieren Ungleichheiten.<sup><a title="" href="#_ftn204" name="_ftnref204">204</a></sup> Wer das Privileg hat, in eine wohlhabende Familie geboren zu werden, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit durch Erbschaft in den Besitz eines Teils oder gar der Gesamtheit des Familienvermögens gelangen. Dies kann selbst dann zu einer Vermehrung der Chancen verhelfen, wenn der Vermögensübergang – wie heute üblich – erst nach Abschluss der eigenen Ausbildung oder gar erst im Pensionsalter stattfindet. Egal an welcher Stelle man in der eigenen Biografie steht: Durch den Erhalt einer Erbschaft verbessert sich die eigene finanzielle Situation, was wiederum die Möglichkeit eröffnet, die eigenen Kinder grosszügiger zu unterstützen und deren Startchancen zu verbessern.<sup><a title="" href="#_ftn205" name="_ftnref205">205</a></sup> Solche mittels Erbschaft geschaffenen, ungleichen Möglichkeiten widersprechen Rawls Prinzip der fairen<em> </em>Chancengleichheit und müssen daher ausgeglichen werden.</p>
<p>Analog zum Argument der Umverteilung fungiert die Erbschaftssteuer auch hier als Mittel zur Herstellung eines gerechten Zustands. Wird ein Teil der Erbschaft abgeschöpft und rückverteilt, kann verhindert werden, dass Vermögen uneingeschränkt von Generation zu Generation weitergegeben wird und Vermögenskonzentrationen in der Hand weniger die Chancen aller anderen negativ beeinflussen. Die Perpetuierung von Ungleichheiten kann mit einer gezielten steuerlichen Belastung von Erbschaften durchbrochen und das Ziel der Chancengleichheit damit erreicht werden.</p>
<p>Die Forderung nach Chancengleichheit aber wird allein durch die Besteuerung von Erbschaften nicht erreicht. Die Abschöpfung von Vermögen ohne zielgerichtete Rückführung gleicht einer Nivellierung nach unten, was weder wünschenswert noch in Rawls’ Sinne wäre. Analog zum Argument der Umverteilung ist auch hier eine Zweckgebundenheit anzustreben. Mit dem Mittel der Erbschaftssteuer kann eine faire Chancengleichheit nur dann erreicht werden, wenn die dadurch generierten Einnahmen effektiv eingesetzt werden, um die Chancen auszugleichen.<sup><a title="" href="#_ftn206" name="_ftnref206">206</a></sup> Geeignet wäre beispielsweise die Verwendung der Gelder im Bildungssektor. Mit den Erträgen der Erbschaftssteuer könnte man kostenlosen Nachhilfeunterricht anbieten oder Unterstützungsmassnahmen für fremdsprachige Kinder subventionieren, womit zu einer höheren Chancengleichheit beigetragen werden könnte. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Zweckgebundenheit von Steuern kann auf das Ende von<em> </em>Abschnitt Argument der Umverteilung verwiesen werden. </p>
<h6>3.2.1.2.3 Argument des Verdienst</h6>
<p>Neben dem Differenzprinzip enthält die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls auch das sogenannte Ausgleichsprinzip (principle of redress).<sup><a title="" href="#_ftn207" name="_ftnref207">207</a></sup> Dieses Prinzip verlangt, dass alle unverdienten Ungleichheiten in einer Gesellschaft beseitigt werden müssen. Die durch die Zufälligkeit der Verteilung von natürlichen Gaben entstehende Ungerechtigkeit soll korrigiert und die Gesellschaft in einen gerechten Zustand zurückgeführt werden. Es handelt sich beim Ausgleichsprinzip um ein egalitaristisches Prinzip, welches das Ziel verfolgt, unverdiente Ungleichheiten durch staatlichen Eingriff zu negieren und eine grösstmögliche Gleichheit herzustellen.<sup><a title="" href="#_ftn208" name="_ftnref208">208</a></sup></p>
<p>Rawls vertritt demnach eine radikale Position, was die moralische Wertkategorie Verdienst betrifft. Seiner Auffassung nach hat ein Individuum weder seine Ausstattung an natürlichen Gaben noch seine Ausgangsposition in der Gesellschaft verdient.<sup><a title="" href="#_ftn209" name="_ftnref209">209</a></sup> Nicht einmal die individuelle Initiative zur Ausbildung einer bestimmten Fähigkeit rechnet Rawls dem jeweiligen Träger zu, sondern führt sie auf glückliche, gesellschaftliche sowie familiäre Umstände zurück, welche wiederum als zufällig und damit als unverdient zu qualifizieren sind.<sup><a title="" href="#_ftn210" name="_ftnref210">210</a></sup> Nebst der Verteilung von Fähigkeiten und Talenten entspringe auch die finanzielle Situation der Familie, in die man geboren wird, allein der «Lotterie der Natur» und sei damit nach moralischen Gesichtspunkten willkürlich.<sup><a title="" href="#_ftn211" name="_ftnref211">211</a></sup> Die günstige gesellschaftliche Ausgangsposition, die mit der Geburt in eine privilegierte Familie entsteht, ist ein unverdienter Vorteil, den es gemäss dem Ausgleichsprinzip zu beseitigen gilt.<sup><a title="" href="#_ftn212" name="_ftnref212">212</a></sup></p>
<p>Daraus folgt, dass auch ein Erbanfall als unverdient zu qualifizieren ist. Wie viel jemand an Vermögen via Erbschaft erhält, ist willkürlich und deswegen – gemäss dem Gerechtigkeitsverständnis von John Rawls – auszugleichen, was in der Konsequenz die Erhebung einer Erbschaftssteuer rechtfertigt.</p>
<p>Es wurde gezeigt, dass auch andere Autoren das Argument des Verdienstes heranziehen, um die Erbschaftssteuer zu legitimieren. Nach deren Auffassung sind Erbschaften zu besteuern, da ihr «unverdienter Erwerb» quer zur allgemein akzeptierten Rechtfertigung sozialer Ungleichheit aus Leistungsunterschieden steht.<sup><a title="" href="#_ftn213" name="_ftnref213">213</a></sup> Rawls Argumentation unterscheidet sich an dieser Stelle. Gemäss seiner Theorie der Gerechtigkeit muss ein solches meritokratisches Denken abgelehnt werden. Aus der Leistungsfähigkeit einer Person kann nicht auf deren Verdienst geschlossen werden. Allein die Fähigkeit eine Leistung zu erbringen, ist von einer Vielzahl an äusseren Umständen abhängig und kann daher nicht als verdient gelten.<sup><a title="" href="#_ftn214" name="_ftnref214">214</a></sup> Trotzdem: Auch in Rawls Gerechtigkeitsverständnis soll Leistung belohnt werden. Wer mehr leistet, soll mehr haben, dies jedoch nicht, weil die Person das verdient hätte, sondern viel mehr, weil die weniger Leistungsfähigen sonst noch weniger hätten.<sup><a title="" href="#_ftn215" name="_ftnref215">215</a></sup></p>
<p>Auch wenn die Frage, was eine Person verdient hat, folglich auf verschiedene Weise beantwortet werden kann, herrsch dennoch mehrheitlich Konsens darüber, was unverdient ist. Der Erhalt einer Erbschaft wird darunter subsumiert.</p>
<p>Anhand dieses letzten Argumentes kann festgehalten werden, dass Rawls einerseits aufgrund der mit einer Erbschaftssteuer erzielbaren Umverteilung und Erhöhung der Chancengleichheit und andererseits aufgrund seines Verständnisses von Verdienst, eine Besteuerung von Erbschaften als gerecht erachten würde.</p>
<h4>3.2.2 Ausgestaltung der Erbschaftssteuer nach John Rawls</h4>
<p>Nach dem die normative Frage des «Ob» und die Begründungsfrage des «Warum» weitestgehend behandelt wurde, soll an dieser Stelle die operative Frage des «Wie» betrachtet werden und die Ausgestaltung der schweizerischen Erbschaftssteuer auf ihre Gerechtigkeit hin untersucht werden.</p>
<p>Rawls überlässt die konkrete Ausgestaltung des Gesellschaftssystems der Politik und sieht die Aufgabe der Philosophie lediglich in der Aufstellung von Grundregeln und Gerechtigkeitsprinzipien.<sup><a title="" href="#_ftn216" name="_ftnref216">216</a></sup> Die Verweise auf die politische Urteilsfindung erschweren deshalb das Heranziehen seiner Gerechtigkeitstheorie im Hinblick auf konkrete Einzelfragen. Trotz dieser eingeschränkten Aussagekraft bezüglich der spezifischen Ausgestaltung einer gerechten Erbschaftssteuer, vermögen das Gedankenexperiment des Schleiers des Nichtwissens und die beiden daraus abgeleiteten Gerechtigkeitsprinzipien dennoch Anhaltspunkte zu liefern, nach welchen sich die Frage «Wie sollen wir besteuern?» beantworten lässt</p>
<p>Nachfolgend konzentriert sich die Untersuchung auf drei Aspekte der Ausgestaltung der schweizerischen Erbschaftssteuer: Die Steuerprogression, die Steuerbefreiungen und die kantonale Steuerhoheit. Diesen drei Teilbereichen ist gemein, dass sie alle eine ungleiche Behandlung der Steuerpflichtigen zur Folge haben und aus diesem Grund in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht von besonderem Interesse sind.</p>
<p>Die oben gestellte Frage wurde unter dem Abschnitt 2.2. Verfassungsrechtliche Schranken der<em> </em>Erbschaftssteuer erstmals diskutiert. An dieser Stelle soll nun ein zweiter Blick auf die Thematik geworfen werden. Es interessiert die Frage, wie diese drei Ausgestaltungsaspekte der schweizerischen Erbschaftssteuer nach Rawls hinsichtlich ihrer Gerechtigkeit bewertet werden würden und ob seine diesbezügliche Position mit den schweizerischen Verfassungsgrundsätzen vereinbar ist. Es gilt zu klären, ob die Theorie der Gerechtigkeit einen Beitrag zur steuerrechtlichen Diskussion um die Thematiken Progression, Steuerbefreiung und Steuerhoheit leisten kann.</p>
<h5>3.2.2.1 Steuerprogression</h5>
<p>Das Besteuerungsmodell der Progression rechtfertigt sich im schweizerischen Steuersystem (wie unter 2.2.1.3. gezeigt wurde) mit dem verfassungsmässigen Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Das war jedoch nicht immer so. Bis ins 20. Jahrhundert wurde in der Schweiz durch die meisten Kantone eine proportionale Besteuerung vorgezogen.<sup><a title="" href="#_ftn217" name="_ftnref217">217</a></sup> Nach einem proportionalen Tarif steigt der als Steuer abzugebende Geldbetrag in gleichem Masse wie die Bemessungsgrundlage.<sup><a title="" href="#_ftn218" name="_ftnref218">218</a></sup> Das Ziel war damals wie heute eine gleichmässige Besteuerung, was unter rein objektiven Gesichtspunkten auch mit einem proportionalen Steuertarif erreicht werden kann. Zieht man jedoch subjektive Faktoren in die Betrachtung mit ein und bewertet die wirtschaftliche Belastung durch die Steuer beim Einzelnen, kommt man zum Ergebnis, dass eine progressive Steuer dem Grundsatz der Rechtsgleichheit weit mehr entspricht. Wird die Abstufung des angewendeten Steuermasses an der Leistungsfähigkeit des Steuersubjekts gemessen, vermag sie die Forderung der Gleichmässigkeit der Steuerlast besser zu erfüllen.<sup><a title="" href="#_ftn219" name="_ftnref219">219</a></sup></p>
<p>Selbstredend kann eine progressive Form der Besteuerung nur dort geeignet sein, wo das Steuerobjekt mit der Leistungsfähigkeit des Steuersubjekts in Verbindung gebracht werden kann.<sup><a title="" href="#_ftn220" name="_ftnref220">220</a></sup> Bei der Erbschaftssteuer ist diese Voraussetzung gegeben, da ein Erbanfall die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Empfängers zu verbessern vermag.<sup><a title="" href="#_ftn221" name="_ftnref221">221</a></sup></p>
<p>Auch Rawls hält das Besteuerungsmodell der Progression in gewissen Konstellationen für angebracht, zieht es der proportionalen Form der Besteuerung jedoch nicht kategorisch vor.<sup><a title="" href="#_ftn222" name="_ftnref222">222</a></sup> Für ihn ist die individuelle wirtschaftliche Leistungsfähigkeit keine geeignete Messgrösse für die gerechte Verteilung der Steuerlast. Im Gegenteil: Erst wenn die Grundstruktur einer Gesellschaft als Ganzes gerecht ist, können aus dem Prinzip «Jedem nach seiner Leistung» überhaupt Erkenntnisse und Schlussfolgerungen gezogen werden.<sup><a title="" href="#_ftn223" name="_ftnref223">223</a></sup></p>
<p>Für Rawls haben proportional ausgestaltete Steuertarife den Vorteil, dass mit ihnen eine geringere Verminderung des Leistungsanreizes der Gesellschaftsmitglieder zu erwarten ist als bei einer progressiven Steuer.<sup><a title="" href="#_ftn224" name="_ftnref224">224</a></sup> Anreize sind in seiner Gerechtigkeitsvorstellung ein wichtiger Faktor für die Vermehrung des wirtschaftlichen Gesamtguts einer Gesellschaft, an dem im Idealfall jeder partizipieren kann. Die Überlegung ist: Je höher der Prozentsatz der Besteuerung, desto weniger Anreiz besteht, ein grosses Vermögen zu generieren (und zu einem späteren Zeitpunkt zu vererben). Progressive Steuertarife können dazu führen, dass die Bereitschaft des Einzelnen abnimmt, mit seiner Leistung zur Gesellschaft beizutragen, sobald sein Vermögen eine bestimmte Grösse erreicht hat. Dadurch wird weder der Einzelne selbst noch die – in Rawls’ Differenzprinzip immer zu berücksichtigenden – Schlechtestgestellten in einer Gesellschaft profitieren.</p>
<p>Wie unter Abschnitt Argument der Umverteilung gezeigt wurde, dient die Besteuerung von Erbschaften für Rawls in erster Linie der Umverteilung von Vermögen in Gesellschaften, die einen Zustand der ungerechten Ungleichheit erreicht haben. Analog dazu sind progressive Steuersätze für ihn nur dann proportionalen Steuersätzen vorzuziehen, wenn sie notwendig sind, um die Gerechtigkeit der Grundstruktur der Gesellschaft wiederherzustellen. Nur wenn progressive Steuertarife ein Mehr an Freiheit und Chancengleichheit garantieren und Vermögens- und Machtzusammenballungen dadurch verhindert werden können, ist ihr Einsatz gerechtfertigt und notwendig.<sup><a title="" href="#_ftn225" name="_ftnref225">225</a></sup></p>
<p>Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Konsequenz, dass sich nach Rawls’ Gerechtigkeitsvorstellung das Besteuerungsmodell an der in einer Gesellschaft herrschenden Verteilungssituation ausrichten muss. Eine progressive Besteuerung ist nur dann zulässig, wenn man sich in einem dem Differenzprinzip widersprechenden Zustand ungerechter Ungleichheit von materiellen Gütern befindet.</p>
<p>Auf das schweizerische Erbschaftssteuersystem gemünzt, würde das bedeuten, dass jeder Kanton die Erbschaftssteuertarife gemessen an den auf seinem Gebiet bestehenden Vermögensunterschieden festzusetzen hätte. Eine solche Ausgestaltung wäre jedoch nicht zielführend. Allein die Tatsache, dass Erblasser und Erbe nicht zwingend im gleichen Kanton wohnhaft sind und damit ein Steuertarif eines Kantons zur Anwendung käme, in dem die Begünstigung gar nicht eintritt, würde zu starken Verzerrungen in der Steuerlast führen. Dieser Problematik könnte begegnet werden, indem man bundesweit die gleichen Tarife ansetzt und die schweizweit herrschende Vermögensungleichheit als Orientierung heranzieht. Die sich daraus ergebende Frage nach der Gerechtigkeit der im Status quo herrschenden kantonalen Steuerkompetenz wird weiter unten im Abschnitt 3.2.2.3. Kantonale Steuerhoheit thematisiert.</p>
<p>Abschliessend darf festgehalten werden, dass Rawls Überlegungen zur progressiven Tarifgestaltung mit dem Verfassungsgrundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht vereinbar sind, da er das Prinzip der Leistungsfähigkeit an sich in Frage stellt.<sup><a title="" href="#_ftn226" name="_ftnref226">226</a></sup> Sein Alternativvorschlag, die Tarifgestaltung von der gesellschaftlichen Verteilungssituation abhängig zu machen, vermag nicht zu überzeugen.<sup><a title="" href="#_ftn227" name="_ftnref227">227</a></sup> Neben der schieren Unmöglichkeit, eine solche Tarifgestaltung faktisch umzusetzen, ist im Weiteren fraglich, ob sie im Einzelfall tatsächlich für mehr Gerechtigkeit sorgen würde. Im Idealfall wäre durch die fortlaufend getätigte Umverteilung mit einer stetigen Abflachung der Progressionskurve bis hin zu einem proportionalen Steuertarif zu rechnen. Doch Erbschaften sind hinsichtlich der Entstehung materieller Ungleichheiten in einer Gesellschaft nur ein Faktor von vielen. Ist es legitim, dass einzelne Erben unterschiedlichen Besteuerungssätzen unterliegen, je nachdem welche Verteilungsverhältnisse im Zeitpunkt des sie erreichenden Erbanfalls herrschen? Folgt man Rawls Argumentation, ist dies anzunehmen. In der Konsequenz würde damit aber nicht nur gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip verstossen – diese Massnahme käme auch mit dem Verfassungsgrundsatz der Gleichmässigkeit der Besteuerung und dem Gebot der Rechtssicherheit in Konflikt.<sup><a title="" href="#_ftn228" name="_ftnref228">228</a></sup> Gleiche oder gleichartige Sachverhalte müssen in gleicher Weise erfasst werden, unabhängig vom Zeitpunkt, in dem sie eintreten. Eine Ausgestaltung gemäss Rawls ist an dieser Stelle folglich abzulehnen.</p>
<h5>3.2.2.2 Subjektive und objektive Steuerbefreiung</h5>
<p>Zur Beantwortung der Frage nach der Gerechtigkeit von Erbschaftssteuerbefreiungen muss nach Art der jeweiligen Privilegierung unterschieden werden. Zunächst gilt es zwischen subjektiver und objektiver Steuerbefreiung zu differenzieren, wobei erstere wiederum unterschiedlich zu beurteilen ist, je nachdem wer damit begünstigt wird. Nachfolgend soll unter dem Titel der subjektiven Steuerbefreiung zunächst auf die Privilegierung von nahestehenden Personen eingegangen werden. Anschliessend soll die Besserstellung von Gemeinwesen und gemeinnützige Institutionen untersucht werden und als Drittes ist auf die steuerliche Begünstigung von Unternehmen einzugehen. Abschliessend werden die gerechtigkeitsrelevanten Aspekte der objektiven Steuerbefreiung betrachtet.</p>
<h6>3.2.2.2.1 Subjektive Steuerbefreiung</h6>
<h6>3.2.2.2.1.1 Begünstigung von Verwandten und Ehegatten resp. eingetragene Partner und Partnerinnen</h6>
<p>Sämtliche schweizerischen Erbschaftssteuergesetze sehen steuerliche Begünstigungen für Personen vor, welche in einem bestimmten Näheverhältnis zum Erblasser standen.<sup><a title="" href="#_ftn229" name="_ftnref229">229</a></sup> Um nicht den Besteuerungsgrundsatz der Allgemeinheit zu verletzen, erfordern solche subjektiven Steuerbefreiungen eine sachliche Rechtfertigung.<sup><a title="" href="#_ftn230" name="_ftnref230">230</a></sup> Es wurde bereits darauf eingegangen, dass die schweizerische Lehre und Rechtsprechung die Legitimation derartiger Steuerbefreiungen im Familienprinzip verortet. Im Gegensatz zu dieser Ansicht steht Rawls der Institution Familie eher kritisch gegenüber. Seiner Auffassung zufolge wird eine Gesellschaft nie Gerechtigkeit erlangen, solange die Familie in irgendeiner Form existiert. Für ihn liegt die Problematik der herrschenden Chancenungleichheit gar darin begründet, dass Menschen in unterschiedlich privilegierten familiären Gefügen aufwachsen.<sup><a title="" href="#_ftn231" name="_ftnref231">231</a></sup> Trotz dieser kritischen Haltung kann Rawls der Rolle der Familie einen Nutzen abgewinnen. Gemäss seiner Gerechtigkeitstheorie erlernt ein Mensch im familiären Bereich das Ideal der «Brüderlichkeit», welches ein zentraler Motivator für sein Differenzprinzip darstellt.<sup><a title="" href="#_ftn232" name="_ftnref232">232</a></sup> Die Familie ist ein Ort, in dem der Grundsatz der individuellen Nutzenmaximierung zurücktritt und Familienmitglieder in der Regel Vorteile suchen, die zugleich den Interessen anderer Familienmitglieder entsprechen.<sup><a title="" href="#_ftn233" name="_ftnref233">233</a></sup> Genau dieses Verhalten gilt es nach Rawls zu kultivieren, damit das Individuum in seiner gesellschaftlichen Teilhabe stets auch das Wohl der weniger privilegierten Mitmenschen im Blick behält.<sup><a title="" href="#_ftn234" name="_ftnref234">234</a></sup> Doch lässt sich daraus schliessen, dass enge Familienmitglieder steuerrechtlich privilegiert werden sollten?</p>
<p>Zunächst ist festzuhalten, dass dem Staat durch die Steuerbefreiung von Personen, welche dem Erblasser nahestanden, eine immense Summe an Steuereinnahmen entgeht. Es sind gerade die Kinder und Ehegatten respektive eingetragene Partner und Partnerinnen der verstorbenen Person, die in der Regel den grössten Teil des Vermögens durch Erbschaft erhalten und damit die lukrativste Erbschaftssteuereinnahmequelle für den Staat darstellen würden.<sup><a title="" href="#_ftn235" name="_ftnref235">235</a></sup> Der Verzicht auf eine derart hohe Einnahmequelle hat zur Folge, dass dem Staat weniger liquide Mittel zur Verfügung stehen, welche er zur Umverteilung nutzen kann. Mittel also, die den untersten Gesellschaftsmitglieder zugutekommen würden – und die Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen rechtfertigen könnten.</p>
<p>Steuerrechtliche Privilegien sind nach der Gerechtigkeitsvorstellung von Rawls demnach nur dann zulässig, wenn von ihnen, sei es direkt oder indirekt, auch die am schlechtesten Gestellten einer Gesellschaft profitieren. Von einer direkten Besserstellung ist hierbei nicht auszugehen. Selbstverständlich kann es sein, dass direkte Nachkommen oder Ehegatten beziehungsweise eingetragene Partner und Partnerinnen zu der untersten Gesellschaftsschicht gehören und mit ihrer erbschaftssteuerlichen Privilegierung dem Differenzprinzip entsprochen wird, allerdings ist dies mit Sicherheit nicht der Regelfall. Viel mehr verhält es sich in der Realität so, dass Personen, die ein nennenswertes Erbe empfangen, schon vor dem Erbanfall in ökonomischer Hinsicht tendenziell gut dastanden.<sup><a title="" href="#_ftn236" name="_ftnref236">236</a></sup> Das Matthäus-Prinzip «Wer hat, dem wird gegeben» gilt auch im Erbschaftssteuerrecht.<sup><a title="" href="#_ftn237" name="_ftnref237">237</a></sup> Im Regelfall handelt es sich bei den direkten Profiteuren dieser subjektiven Steuerbefreiung also nicht um die schlechtestgestellten Gesellschaftsmitglieder, weshalb die erbschaftsteuerrechtliche Privilegierung auch auf diese Weise nicht gerechtfertigt werden kann.</p>
<p>Was zu beachten bleibt, ist die Möglichkeit, durch subjektive Erbschaftssteuerbefreiungen für eine indirekte Begünstigung der untersten Gesellschaftsschicht zu sorgen. Es wurde bereits erläutert, dass Rawls die Vermögensübertragung via Erbschaft grundsätzlich befürwortet, da sie einen Anreiz schafft, sein eigenes Vermögen zu vermehren, was wiederum zur wirtschaftlichen Effizienz einer Gesellschaft beiträgt und damit im Sinne des Differenzprinzips einen gesamtheitlichen Nutzen bringt. Es stellt sich die Frage, ob die Tatsache, dass bestimmte Personenkreise von der Erbschaftssteuer ausgenommen sind, diese Anreizfunktion verstärken könnte. Ein altruistischer Erblasser, der seine Nachkommen bestmöglich begünstigen möchte, wird motivierter sein, ein Vermögen anzusparen und zu vererben, wenn er weiss, dass in dieses gar nicht oder nur in geringem Masse steuerrechtlich eingegriffen wird.<sup><a title="" href="#_ftn238" name="_ftnref238">238</a></sup> Der Anreiz zur Effizienz einer Gesellschaft beizutragen, kann mit Steuerprivilegien folglich durchaus gesteigert werden.<sup><a title="" href="#_ftn239" name="_ftnref239">239</a></sup> Zu klären gilt es allerdings auch hier, ob die momentane Ausgestaltung der subjektiven Privilegien von nahestehenden Personen diesen Anreiz tatsächlich setzen kann. Meines Erachtens stimmen die von den aktuellen Erbschaftssteuergesetzen vorgegebenen Befreiungen nicht zwingend damit überein, was ein Erblasser motiviert, Vermögen anzusparen. Vielmehr wäre auch in diesem Kontext über den Vorschlag nachzudenken, die Steuerbelastung davon abhängig zu machen, wen der Erblasser in seinem Testament begünstigen will.<sup><a title="" href="#_ftn240" name="_ftnref240">240</a></sup> Für bestimmte Personen setzt die erbschaftssteuerprivilegierte Behandlung ihres Freundeskreises den grösseren Anreiz, effizient am Wirtschaftsleben teilzunehmen, als die momentane Erbschaftssteuerordnung es tut. Nach Rawls Gerechtigkeitsvorstellung wären subjektive Steuerbefreiungen demnach nur dann zulässig, wenn sie tatsächliche Anreize zu setzen vermögen und nachweisbar die Erblasser motivieren, zu einer blühenden Wirtschaft beizutragen.<sup><a title="" href="#_ftn241" name="_ftnref241">241</a></sup></p>
<p>Ob die Anreizfunktion der subjektiven Steuerbefreiungen den dadurch erzielten Verlust von rückverteilbaren Steuereinnahmen überwiegen kann und in der Konsequenz zu einem grösseren Vorteil für jedermann führt, kann an dieser Stelle nicht abschliessend festgestellt werden. Das noble Motiv, alle Personen (insbesondere die am Schlechtestgestellten) in jeder Ungleichverteilung zu berücksichtigen, scheitert erneut an der Umsetzbarkeit im konkreten Anwendungsfall.</p>
<h6>3.2.2.2.1.2 Begünstigung des Gemeinwesens und der gemeinnützigen Institutionen</h6>
<p>Im Gegensatz zur steuerrechtlichen Privilegierung von Verwandten und Ehegatten resp. eingetragenen Partner und Partnerinnen scheint Rawls Position zur Begünstigung des Gemeinwesens und der gemeinnützigen Institutionen eindeutig zu sein: Eine derartige Ausgestaltung des Erbschaftssteuersystems ist ganz in seinem Sinne.</p>
<p>Wie bereits erläutert, ist ein Kernziel der Erhebung von Erbschaftssteuern nach Rawls’ Gerechtigkeitstheorie ihre Umverteilungsfunktion.<sup><a title="" href="#_ftn242" name="_ftnref242">242</a></sup> Betrachtet man die Erbschaftssteuer als ein geeignetes Mittel, Steuersubstrat zu generieren, um es der gesamten Gesellschaft und insbesondere den am schlechtesten Gestellten zugutekommen zu lassen, wäre es ein kluger Schachzug, schon mit der Erhebung an sich Anreize in Richtung Gemeinnützigkeit zu setzen. Die Personen im Urzustand haben Grundkenntnisse der menschlichen Psychologie – es erscheint folglich klar, dass es jedes Individuum vorziehen würden, das selbst erwirtschaftete Geld nach seinen persönlichen Wünschen und Vorstellungen zu investieren und eine Gesellschaft ausgestaltet werden würde, welche das berücksichtigt.<sup><a title="" href="#_ftn243" name="_ftnref243">243</a></sup> Wenn das Individuum mit steuerlichen Begünstigungen dazu motiviert wird, das eigene Erbe im Sinne des Gemeinwohls zu investieren, dann entspricht das vollumfänglich Rawls Gerechtigkeitstheorie.</p>
<p>Nicht zu übersehen ist hierbei, dass eine oben beschriebene Ausgestaltung die Gefahr berge, dass nur spezifische Institutionen gefördert werden und Erbschaften beispielsweise in grossen Teilen der Kultur zugutekommen und kaum Geld in die systemrelevanten Gesundheitsinstitutionen fliesst.<sup><a title="" href="#_ftn244" name="_ftnref244">244</a></sup> Auch nach Rawls wären Zweifel angebracht, ob man die Umverteilung materieller Güter auf diesem Weg dem Individuum überlassen sollte. Für ihn liegt die Aufgabe für eine gerechte Verteilung zu sorgen beim Staat. In jedem Fall wäre es meines Erachtens zwingend notwendig den Begriff der Gemeinnützigkeit genau zu definieren und zu regulieren, welche Institutionen in welchem Masse und welcher Regelmässigkeit begünstigt werden dürfen. Nur so kann eine gerechte und gleichmässige Verteilung gewährleistet werden.<sup><a title="" href="#_ftn245" name="_ftnref245">245</a></sup></p>
<p>Eine weitere Möglichkeit, dieser Gefahr zu begegnen, ist eine ausgewogene Besteuerung der restlichen Erben. Es geht nicht darum, keine Steuereinnahmen mehr zu erzielen. Auch wenn es steuerliche Anreize zu Gunsten des Gemeinwohls gibt, können allein aufgrund des gesetzlich geregelten Pflichtteilsrechts nicht alle Erblasser ihr gesamtes Vermögen an gemeinnützige Institutionen vererben.<sup><a title="" href="#_ftn246" name="_ftnref246">246</a></sup> Es werden daher weiterhin Steuereinnahmen generiert, die vom Staat bewusst dort verwendet werden können, wo sonst womöglich keine Begünstigungen hinfliessen würden.</p>
<p>Im Sinne einer Lenkungssteuer würde die Erbschaftssteuer in der dargestellten Ausgestaltung das Verhalten der Erblasser in eine bestimmte, dem Gemeinwohl dienliche Richtung lenken, womit dem zweiten Gerechtigkeitsprinzip von Rawls entsprochen wäre und eine derartige Privilegierung zu befürworten ist.</p>
<h6>3.2.2.2.1.3 Begünstigung von Unternehmen</h6>
<p>Nach Rawls Gerechtigkeitskonzeption können auch erbschaftssteuerliche Begünstigungen im Bereich der Unternehmensvererbung als Spezialfall geboten sein. Erfolgreiche Unternehmen tragen zum wirtschaftlichen Wachstum einer Gesellschaft bei und können, wenn sie gemäss dem Differenzprinzip ausgestaltet sind, auch den in einer Gesellschaft am schlechtesten positionierten Personen – beispielsweise durch die Schaffung von Arbeitsplätzen – Vorteile bringen. Das Argument, das in diesem Kontext regelmässig gegen die Erbschaftssteuer angeführt wird, ist, dass sich der Unternehmensübertrag via Erbschaft unter der Last von Erbschaftssteuern oft als schwierig gestaltet.<sup><a title="" href="#_ftn247" name="_ftnref247">247</a></sup></p>
<p>Betrachten wir das Beispiel eines Familienunternehmens: Der Erblasser verstirbt und hinterlässt ein Unternehmen und drei Kinder. Wenn der Betrieb nun fortgeführt werden soll und nur ein Kind diese Aufgabe übernehmen kann, kommt neben die Pflicht die Geschwister auszubezahlen auch noch die Erbschaftssteuerlast. Dies endet im äussersten Fall darin, dass das Unternehmen verkauft werden muss, weil sich das ein einzelner Erbe gar nicht leisten kann. Und auch wenn es die finanziellen Mittel der Erben zulassen, dass Unternehmen zu halten, wird mit der Besteuerung dennoch Substrat entzogen, welches womöglich im Interesse der Unternehmung und der Wirtschaft eingesetzt worden wäre. Eine derartige Konsequenz der Erbschaftssteuer schwächt die Effizienz der Wirtschaft und ist nach Rawls Gerechtigkeitsvorstellung nicht erstrebenswert. Steuererleichterungen sind in dieser Konstellation demnach zu befürworten.</p>
<p>In den meisten Fällen werden Unternehmen familienintern an die eigenen Kinder vererbt.<sup><a title="" href="#_ftn248" name="_ftnref248">248</a></sup> Im geltenden Recht erübrigt sich grundsätzlich eine steuerrechtliche Begünstigung von Unternehmen, da in den meisten Kantonen die Übertragung auf die Nachkommen steuerfrei vollzogen werden kann. Folgt man jedoch der oben dargelegten Argumentation, wonach Steuerprivilegien aufgrund verwandtschaftlicher Nähebeziehungen nicht zwingend gerechtfertigt sind, müsste hier eine neue Regelung eingeführt werden.</p>
<p>Trotz der momentanen Gesetzeslage, welche die meisten Fälle der Unternehmensnachfolge bereits abdeckt, sehen beinahe die Hälfte der Kantone fiskalische Vorzugsregelungen für die Übertragung von Unternehmen via Erbschaft vor.<sup><a title="" href="#_ftn249" name="_ftnref249">249</a></sup> Die kantonalen Regelungen sind hier sehr heterogen und offen gehalten, um eine Präzisierung durch die Praxis zu ermöglichen. Gemein ist ihnen allen das Ziel einer volkswirtschaftlich nützlichen Unternehmenskontinuität. Beispiele für eine Erleichterung der Steuerlast in diesem Bereich sind die Stundung der Steuer, die Steuerfreibeträge oder die Begünstigungen, sofern das Unternehmen für eine festgelegte Frist durch den Erblasser weitergeführt wird.<sup><a title="" href="#_ftn250" name="_ftnref250">250</a></sup></p>
<p>Folgende weitere Problematik besteht: Der sich in bestimmten Konstellationen ergebende Zwang zur Unternehmensveräusserung kann zu einer Beschleunigung von Vermögenskonzentrationen führen.<sup><a title="" href="#_ftn251" name="_ftnref251">251</a></sup> Zum Verkauf stehende Unternehmen werden an diejenigen Personen veräussert, die sie sich leisten können. Es sind also nicht andere Kleinunternehmer, sondern viel mehr Grosskonzerne, die Unternehmen aufkaufen und so ihre eigene Macht ausbauen. Wird die Erbschaftssteuer in diesem Kontext konsequent zu Ende gedacht, ist sie nicht ausgleichend und umverteilend, sondern trägt zur Akkumulierung von Vermögen bei, dies allerdings bei den Mittwettbewerber und nicht beim Erben. Eine solche Dynamik ist nach Rawls Gerechtigkeitsvorstellung zu vermeiden, weswegen bei der Unternehmensvererbung Ausnahmeregelungen durchaus sinnvoll sein können.</p>
<h6>3.2.2.2.2 Objektive Steuerbefreiung</h6>
<p>In den meisten Kantonen sind Vermögensübergänge bis zu einer bestimmten Summe von der Besteuerung ausgenommen.<sup><a title="" href="#_ftn252" name="_ftnref252">252</a></sup> Vor dem Hintergrund, dass Rawls die Besteuerung von Erbschaften in erster Linie aufgrund ihrer Umverteilungsfunktion gutheisst, sind Befreiungen von der objektiven Steuerpflicht als sinnvoll zu erachten. Ziel ist es, die Vermögensverteilung allmählich und stetig zu berichtigen, was am besten durch Abschöpfung hoher Erbschaften erreicht werden kann.<sup><a title="" href="#_ftn253" name="_ftnref253">253</a></sup> Geringe Vermögensübertragungen von Todes wegen sollen nicht mit hohen Steuersätzen belastet werden, da damit die Motivation eingeschränkt werden kann, zur Effektivität einer Gesellschaft beizutragen. Erst wenn Erbschaften in ihrer Summe eine nicht mehr rechtfertigbare Ungleichheit zur Folge haben, gilt es als Staat einzugreifen und zu besteuern, so Rawls.</p>
<h5>3.2.2.3 Kantonale Steuerhoheit</h5>
<p>Abschliessend soll an dieser Stelle auf die Thematik der Erbschaftssteuerkompetenz eingegangen werden. Die Tatsache, dass in der Schweiz die Steuerhoheit bei den Kantonen liegt und man es im Erbschaftssteuerrecht demnach mit 26 verschiedenen Ordnungen zu tun hat, führt zu einer Ungleichbehandlung, welche auf ihre Gerechtigkeit hin untersucht werden muss.</p>
<p>Wie unter 2.1.2 gezeigt wurde, erheben bestimmte Kantone überhaupt keine Erbschaftssteuer (Schwyz und Obwalden), während andere Kantone Steuersätze von fast 50% vorsehen.<sup><a title="" href="#_ftn254" name="_ftnref254">254</a></sup> Ob und wie schwer die Erbschaftssteuerlast die Erben trifft, hängt folglich massgeblich vom letzten Wohnort des Erblassers ab. Die in dieser Regelung immanente Ungleichheit bedarf der Rechtfertigung.</p>
<p>Um Rawls’ Gerechtigkeitsverständnis zu entsprechen, müsste die ungleiche Behandlung der Erben in Abhängigkeit vom letzten Wohnsitz des Erblassers in ihrer Konsequenz dazu führen, dass alle Teilnehmer und insbesondere die am niedrigsten Positionierten einer Gesellschaft aus dieser Ausgestaltung der Erbschaftssteuer einen Vorteil ziehen. Es stellt sich also die Frage, wer denn tatsächlich von einer kantonalen Erbschaftssteuererhebungskompetenz profitiert.</p>
<p>Hier gilt es zwei Aspekte zu betrachten: Zum einen die rechtsungleiche Behandlung der Steuerpflichtigen im Status quo und zum anderen die dem Steuerwettbewerb unterliegende Entwicklung der Erbschaftssteuer aufgrund der kantonalen Steuerhoheit.</p>
<p>De lege lata ist es so, dass die eigene Erbschaftssteuerpflicht in weiten Teilen davon abhängt, in welchem Kanton die Person, von deren Nachlass man profitiert, ihren letzten Wohnsitz hatte. Bevorteilt sind diejenigen Erben, die von einer Person erben, welche entweder aus erbschaftssteuerlicher Hinsicht in einem günstigen Kanton ihr Leben fristete oder die Möglichkeit hatte, die unterschiedlichen Erbschaftssteuerordnungen in der Schweiz in ihrer Nachlassplanung zu berücksichtigen und diesbezüglich gegebenenfalls bewusste Dispositionen getroffen hat. Wer beispielsweise über das nötige Kapital verfügt, sich eine Liegenschaft im Kanton Schwyz leisten zu können, dessen Nachkommen haben beim Erbanfall (betreffend der Liegenschaft) das Privileg, keiner Erbschaftssteuer zu unterliegen. Die tatsächlichen Profiteure der kantonalen Erbschaftssteuerhoheit sind folglich nicht die in einer Gesellschaft am Schlechtestgestellten, sondern diejenigen, die das Glück haben, von jemandem zu erben, der an einem erbschaftssteuerlich günstigen Ort seinen letzten Wohnsitz hatte. Eine Vereinbarkeit mit dem Rawls’schen Differenzprinzip ist nicht gegeben und eine derartige Ausgestaltung der Erbschaftsordnung müsste nach seinem Gerechtigkeitsverständnis abgelehnt werden.</p>
<p>Neben dieser individuellen und nach Rawls nicht rechtfertigbaren Ungleichbehandlung hat die kantonale Steuerhoheit eine weitere gerechtigkeitstheoretisch problematische Konsequenz: Den Steuerwettbewerb.</p>
<p>Die Tatsache, dass es den Kantonen vollkommen freigestellt ist, wie hohe Erbschaftsteuern sie erheben, führt zu einer Konkurrenzsituation. Im Bestreben möglichst hohe Fiskaleinnahmen zu generieren, ist es für einen Kanton interessant, eine attraktive Steuerlandschaft darzustellen und damit wohlhabende Personen anzuziehen.<sup><a title="" href="#_ftn255" name="_ftnref255">255</a></sup> Im Resultat führt dies jedoch zu einem regelrechten Steuerdumping oder auch «Race to the bottom» genannten Gesetzgeberverhalten.<sup><a title="" href="#_ftn256" name="_ftnref256">256</a></sup> Begünstigt werden damit die finanzstarken Steuerzahler, denn gerade ihre Zuwanderung ist im Sinne der Kantonskasse. Personen, die am unteren Rand der Gesellschaft stehen und meist nicht die Möglichkeit haben, sich der Besteuerung zu entziehen, ziehen aus diesem Wettbewerb kaum einen Vorteil. Im Gegenteil: Durch das stetige, gegenseitige Unterbieten kommt es zu weniger Steuereinnahmen und damit auch zu weniger Mittel, deren Rückfluss den Schlechtestgestellten einer Gesellschaft dienlich wären. Statistiken zeigen, dass das Ziel der Kantone, mit tiefen Erbschaftssteuersätzen wohlhabende Steuerzahler anzuziehen und damit mehr Steuersubstrat zu generieren, nicht erreicht wird und solche erbschaftssteuerbedingten Wanderreaktionen viel geringer ausfallen, als sie zurzeit eingeschätzt werden. Tatsächlich ist das Steuersubstrat der Erblasser also weit weniger elastisch als erwartet.<sup><a title="" href="#_ftn257" name="_ftnref257">257</a></sup></p>
<p>So vermag denn auch das Argument der kantonalen Souveränität und des Föderalismus im Erbschaftssteuerrecht nicht zu überzeugen. Gemäss dem Subsidiaritätsgrundsatz in Art. 5a BV darf der Bund nur diejenigen Aufgaben übernehmen, welche einer einheitlichen Lösung bedürfen und genau das wäre hier gemäss Rawls der Fall. Ungleichheiten sind nach ihm nur solange zulässig, als sie einen Vorteil für alle bringen. Ist dies nicht mehr gegeben, ist das Modell der Gleichheit vorzuziehen.<sup><a title="" href="#_ftn258" name="_ftnref258">258</a></sup> Die kantonale Steuerhoheit bringt in erster Linie den wohlhabenden Gesellschaftsmitgliedern Vorteile und steht deswegen in ihrem Zweck konträr zur Gerechtigkeitsvorstellung von Rawls. Eine Bundes- oder zumindest eine Steuerharmonisierungskompetenz wäre eine mögliche Lösung, um der von der Bundesverfassung geforderten Rechtsgleichheit zur Durchsetzung zu verhelfen.</p>
<p>Dem Argument, dass den Kantonen mit der Übertragung der Erbschaftssteuerhoheit auf Bundesebene ihr letztes Steuerreservat entzogen wird, kann mit Regelungen, die den Kantonen Ertragsteilhaben zusichern, der Gehalt genommen werden. Auch der föderale Charakter der Erbschaftssteuer und die darin liegende Rechtfertigung der kantonalen Steuerkompetenz ist meines Erachtens abzulehnen. Geerbt und vererbt werden sollte in allen Kantonen gleich. Religiöse, kulturelle und regionale Unterschiede zwischen den Kantonen sind nicht ersichtlich und überzeugen nicht als Argument gegen eine Bundeskompetenz.</p>
<p>Der in der Verfassung inhärente Zielkonflikt zwischen rechtsgleicher Besteuerung nach <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_127" target="_blank" rel="noopener">Art. 127 Abs. 2 BV</a> und kantonaler Souveränität nach <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/de#art_3" target="_blank" rel="noopener">Art. 3 BV</a> muss gemäss Rawls im Sinne der Gerechtigkeit zugunsten der Bundeskompetenz entschieden werden.</p>
<h2>4. Schluss</h2>
<p>In der vorliegenden Arbeit wurde aufgezeigt, dass sich die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls in vielerlei Hinsicht auf das schweizerische Erbschaftssteuersystem anwenden lässt. Das Steuerrecht und insbesondere das Erbschaftssteuerrecht werfen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit auf, welche einen zentralen Platz in Rawls Theorie der Gerechtigkeit einnehmen. Die Erbschaftssteuer zeigt sich als geeignetes Instrument, um mittels Umverteilung auf ungerechte Gesellschaftsstrukturen einzuwirken und ein Mehr an Chancengleichheit zu erreichen. Auch die Tatsache, dass der Erhalt einer Erbschaft gegenleistungslos erfolgt und damit das Opfer der zur Steuerleistung verpflichteten Erben verhältnismässig klein ist, spricht für die Erhebung einer Erbschaftssteuer.</p>
<p>Was die Ausgestaltung einer gerechten Erbschaftssteuer betrifft, vertritt Rawls eine (in Teilen) vom schweizerischen System abweichende Vorstellung. Auf dem Grat zwischen der Korrektur von ungerechten Ungleichheiten mittels Besteuerung und der Befürwortung von gerechten Ungleichheiten zum Vorteil aller, kommen Ergebnisse zustande, die in ihrer Konsequenz weder umsetzbar noch gerecht sind.</p>
<p>Die von Rawls geforderte Anpassung der Tarifgestaltung einer Steuer in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Verteilungssituation resultiert in individuellen Härtefällen und Ungleichheiten. Diese Forderung gilt es daher zurückzuweisen.</p>
<p>Was die Privilegierungen im schweizerischen Erbschaftssteuerrecht betrifft, eröffnet uns Rawls Gedanke der Brüderlichkeit und die Beachtung seines Differenzprinzips eine neue, zeitgemässere und sozialere Perspektive. Mit Privilegien schafft man Anreize und mit Anreizen werden die Menschen zu einem gesamtgesellschaftlich nützlichen Verhalten bewegt – ganz ohne Verbote oder Freiheitseinschränkungen. Im Sinne einer Lenkungssteuer soll die Erbschaftsteuer niemanden von einem bestimmten Verhalten abhalten, sondern die Erblasser mit gezielten Anreizen dazu bewegen, ihr Vermögen im Sinne der gesamten Gesellschaft zu vererben und damit gleichzeitig zu einer grösseren Chancengleichheit beizutragen.</p>
<p>Abschliessend ist Rawls zuzustimmen, dass der Status Quo der kantonalen Erbschaftssteuerkompetenz derart gravierende Ungleichbehandlungen mit sich bringt, dass hier Reformbedarf besteht. Die Angst vor Kapitalabwanderung vermag die herrschende Ungerechtigkeit nicht zu legitimieren. Mit einer Bundeserbschaftssteuer könnte man das «Race to the bottom» aufhalten und einen gerechteren Zustand schaffen – dies zumindest innerhalb der Schweiz. Was zu beachten bliebe, wäre die internationale Dimension der Erbschaftssteuer und die mit ihr einhergehenden Gerechtigkeitsfragen.</p>
<p>Auch wenn die direkte Übernahme einer philosophischen Theorie in den juristischen Rechtssetzungsprozess weder möglich noch erstrebenswert ist, vermag sie dennoch einen wichtigen Beitrag zu leisten. Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipien als Gesetze zu betrachten, wäre im Ansatz sicherlich verfehlt und mit unserem demokratischen System nicht zu vereinbaren. Dennoch ermöglicht die Beschäftigung mit philosophischen Gedanken und Gerechtigkeitstheorien einen wichtigen Perspektivwechsel. Insbesondere Rawls’ Methodik des Schleiers des Nichtwissens kann im Rechtssetzungsprozess ein hilfreiches Instrument darstellen, um Gesetze auf ihre Gerechtigkeit hin zu überprüfen. Das Gedankenexperiment zwingt zu einer pluralistischen Betrachtungsweise, was die Debatte bereichert und das Rechts-Links-Denken womöglich ein wenig aufzuweichen vermag. Natürlich können wir als Gesellschaft nicht in einen Urzustand zurückkehren und die Möglichkeit der bedingungslosen Neugestaltung bleibt uns stets verwehrt. So ist das Gedankenexperiment allerdings auch nicht zu verstehen. Der Urzustand eröffnet viel mehr die Chance zur Grundlagenreflexion einer bestehenden Gesellschaftsordnung, was zu jedem Zeitpunkt möglich ist. Wie die Philosophie sollte auch die Rechtswissenschaft ihre Grundannahmen regelmässig hinterfragen, um ihrem Grundwert – nämlich der Gerechtigkeit – stets bestmöglich zu entsprechen.</p>
<p>Abschliessend ist festzuhalten, dass es sich lohnt, über den eigenen dogmatischen Tellerrand hinauszublicken. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der Erbschaftssteuer ist äusserst wertvoll für die Rechtsentwicklung. Ihre finanzielle Bedeutung hängt in hohem Masse von der konkreten Ausgestaltung ab und wie im Rahmen dieser Arbeit gezeigt wurde, besteht diesbezüglich noch Gestaltungsraum und Handlungsbedarf.</p></article>
Use the editor to edit this text.